"Ich sage der Gruppe immer: Wenn wir nur ein Paper oder einen Prototyp produzieren würden, wären wir gescheitert." Für Helen Lee ist Forschung ein Marathonlauf. Die Verwandlung eines komplexen Labortests in ein simpel anwendbares Diagnostik-Kit für Entwicklungsländer bedurfte der Beharrlichkeit und Frustrationsresistenz.

Foto: European Patent Office

Aids-Tests, die das Virus im Blut in kurzer Zeit nachweisen: Was lange Zeit nur in aufwendigen Laboruntersuchungen möglich war, schafft Helen Lees kaffeemaschinengroßes Testsystem Samba in 90 Minuten. Und das auch bei widrigen Verhältnissen im Hinterland Afrikas. Die Forscherin, die an der renommierten Cambridge University tätig ist, hat die Entwicklung eines praxistauglichen Geräts selbst übernommen und dazu das Start-up Diagnostics for the Real World gegründet. Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO, The Wellcome Trust und die Childrens Investment Fund Foundation investierten insgesamt 100 Millionen Euro in die Entwicklung.

Ärzte ohne Grenzen hat in sechs ländlichen Kliniken in Uganda und Malawi bisher 40.000 Patienten mit Samba getestet, um deren Behandlung zu überwachen. Das System hat zudem das Potenzial, auch für andere Infektionskrankheiten wie Hepatitis verwendet zu werden. Lee erhielt kürzlich den Publikumspreis des Europäischen Erfinderpreis 2016, den das Europäische Patentamt in Lissabon vergab.

STANDARD: Sie haben ein Werkzeug für die HIV-Diagnostik in Entwicklungsländern erfunden. Wie war die Arbeit daran?

Lee: Ich sehe mich nicht als Erfinderin. Ich sehe mich als jemand, der Probleme lösen musste. Diagnostik ist Problemlösen auf vielen Ebenen. Man braucht Chemie, Elektronik, Software. Man muss klinische Studien absolvieren. Das ist das Faszinierende und gleichzeitig Schwierige daran. Man braucht Beharrlichkeit. Und es ist oft frustrierend. Man muss es mögen, auf Berge zu klettern. Wer ebene Wege mag, für den ist das nicht der richtige Platz.

STANDARD: Samba ist ein Schnelltest, der nicht Antikörper, sondern das Virus selbst im Blut erkennt. Wie funktioniert das?

Lee: Antikörper sind ein wichtiger diagnostischer Marker. In manchen Fällen reicht er aber nicht aus. Wenn man einmal mit Aids infiziert ist, wird der Antikörpertest immer positiv sein. Wenn man prüfen will, ob eine Behandlung erfolgreich ist, muss man das Vorhandensein des Virus selbst überprüfen. Samba sucht nach dem genetischen Material des Virus im Blut. Eine zweite Anwendungsmöglichkeit liegt bei Babys von HIV-positiven Müttern. Hat die Mutter Antikörper, hat sie das Baby auch. Das heißt aber nicht, dass das Baby infiziert ist. Man muss also nach dem Virus selbst suchen. Man muss wissen: Eine Erkrankung nimmt bei Babys oft einen aggressiven Verlauf. Behandelt man sie nicht sehr früh, sterben 50 Prozent vor dem zweiten Geburtstag.

STANDARD: Welchen Ansatz verfolgen Sie mit Ihrem Testsystem?

Lee: Samba sucht nach der Nadel im Heuhaufen. Ein Bluttropfen ist eine komplexe Ansammlung von Proteinen, Lipiden und vielen anderen Stoffen. Man sucht nach einem kleinen Virus inmitten von Milliarden Molekülen. Man muss ihn spezifisch ansprechen können, um ihn herauszufischen. Dann wird er milliardenfach vervielfältigt, um ihn nachzuweisen. Wir arbeiten mit der genetischen Struktur des Virus und suchen nach einer Sequenz, die nur das HI-Virus aufweist. Dazu entwarfen wir ein Gegenstück, das sich an den Virus bindet. Dann wird diese Virus-RNA vervielfältigt – und schließlich ihr Vorhandensein geprüft und das Resultat visualisiert. In der Anwendung ist das weniger kompliziert: Die Chemie hinter dieser Methode ist stark vereinfacht. Unser System ist daher so simpel zu bedienen wie ein Schwangerschaftstest.

STANDARD: Wie sieht die Anwendung aus?

Lee: Man kann das Ergebnis sehen: Zwei Linien heißt positiv, eine heißt negativ, keine heißt, du hast den Test nicht richtig gemacht. Wenn eine zweite Linie auftaucht, wird man den Patienten fragen, ob er die Medikamente korrekt einnimmt. Tauchen nach sechs Monaten noch immer zwei auf, obwohl das Medikament korrekt eingenommen wurde, hat sich wohl eine Resistenz entwickelt, und man muss die Behandlung ändern. Die simple Gestaltung erlaubt uns, das Verfahren in ländlichen Gegenden in Afrika einzusetzen.

STANDARD: Welche Schwierigkeiten waren zu überwinden, damit das System robust genug ist?

Lee: Bisher musste man die Proben in ein Labor transportieren und lange auf Ergebnisse warten. Lag es dann vor, war das Baby vielleicht schon tot. Jetzt kann man dort testen, wo der Patient behandelt wird. Der Test ist hitzestabil und funktioniert trotz Spannungsfluktuationen. Das Gerät trotzt dem Staub. Wir brauchten fast ein Jahr, um eine kleine Filtervorrichtung zu entwickeln. Es ist vielleicht nicht möglich, den Filter zu tauschen. Also haben wir ihn waschbar gemacht. Es gab viele kleine Hindernisse dieser Art. Nun ist die Prozedur so einfach, dass man das auch nicht medizinisch geschultem Personal in zehn Minuten beibringen kann.

STANDARD: Warum entwickeln Sie das System selbst in einem eigenen Unternehmen?

Lee: Ich sage den Leuten in meiner Gruppe immer: Wenn wir nur ein Paper oder einen Prototyp produzieren würden, wären wir gescheitert. Alles, was zählt, sind Resultate. Es ist ein Marathon, kein Sprint. Auch jetzt ist es nicht einfach. Das System muss noch kostengünstiger werden.

STANDARD: Viele Menschen südlich der Sahara werden nach wie vor nur unzureichend behandelt. Haben Sie Hoffnung, dass sich daran rasch etwas ändert?

Lee: Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass unsere Entwicklung das Aids-Problem lösen wird. Aber nur, weil ich nicht die ganze Welt verköstigen kann, heißt das nicht, dass ich nicht einigen Menschen zu Essen geben kann. Im Leben hat man nie volle Kontrolle. Man tut, was man kann, mit dem, was man hat. Ich sah das Bild einer Frau, die gerade ihre Testergebnisse erhalten hatte. Ich kenne sie nicht. Aber sie strahlte und war so stolz, virenfrei zu sein. (Alois Pumhösel, 26.6.2016)