Wien – "Warum haben Sie eigentlich ein Messer?", fragt Vorsitzende Beate Matschnig den Angeklagten Muhammed Y. mit hochgezogenen Augenbrauen. "Am Anfang, als ich es gekauft habe, habe ich mir gedacht, jeder hat ein Messer, das ist cool", antwortet ihr der 18-Jährige, der mit einer Mordanklage vor den Geschworenen sitzt. Am 1. März hat er die Waffe allerdings dazu benutzt, einen 52 Jahre alten entfernten Verwandten mit einem Herzstich zu töten.

Die Tat selbst hat der Jugendliche von Anfang an zugegeben – er hat sich wenige Stunden nach der Flucht vom Tatort in Wien-Brigittenau sogar selbst der Polizei gestellt. Nur: Töten wollte er den Gegner nicht. "Ich wollte ihn nur leicht verletzen und ein bisschen stechen", sagt er. Das Springmesser mit einer 9,5-Zentimeter-Klinge drang durch drei Kleidungsstücke und hinterließ eine elf Zentimeter lange Wunde.

Kriselnde Ehe der Tante

Die Geschichte beginnt aber bereits mindestens drei Jahre zuvor. Y.s Vater hat eine verheiratete Schwester. Und das Opfer ist der Bruder ihres Gatten. In dieser Ehe kriselte es, Y.s Vater und das spätere Opfer scheinen sich eingemischt zu haben.

Im Jahr 2013 kam es zu einer Schlägerei zwischen den beiden Männern und einer Gerichtsverhandlung. Y.s Vater wurde zu bedingter Haft und 500 Euro Schmerzensgeld verurteilt, die Entschädigung hat er angeblich nie bezahlt.

Rechtsfriede herrschte danach dennoch keiner. "Die Familien wohnen sehr nah beieinander", erzählt der junge Angeklagte. "Man hat sich immer wieder auf der Straße gesehen."

"Ein Idiot, genau wie dein Vater"

"Ich war plötzlich mitten in diesem Streit drinnen. Dabei habe ich nicht einmal engen Kontakt zu meiner Tante", schildert der Teenager. Dennoch habe ihn das spätere Mordopfer drei Jahre lang auf der Straße immer wieder beschimpft. "Du bist ein Idiot, genau wie dein Vater", soll beispielsweise gefallen sein. Er habe zurückgeschimpft, handgreiflich sei er nie geworden, sagt der Unbescholtene.

Der, wie die Jugendgerichtshilfe festgestellt hat, einen "unstrukturierten Lebenswandel" hat. Er besuchte die Unterstufe, brach dann die HTL und zwei Lehren ab, wohnte bei den Eltern. "Haben die Eltern mit Ihnen darüber gesprochen, wofür Sie geeignet sind?", will sein Verteidiger Rudolf Mayer wissen. "Nein, mein Vater hat nur gesagt, ich muss arbeiten. Ich habe mich zurückgezogen und lieber alles geschluckt."

Da er in der elterlichen Wohnung nicht rauchen durfte, ging er am Tatabend auf die Straße. "Ich bin herumgegangen und habe auf mein Handy geschaut. Plötzlich ist er dagestanden und hat provokant gegrinst."

Zufall oder Absicht bleibt ungeklärt

"Er" ist das Opfer, das gerade vom Einkaufen kam. Warum es Y. bei seiner angeblich ziellosen Wanderung genau vor den Hauseingang des Opfers verschlug, bleibt ungeklärt. Die Hinterbliebenen des Opfers und ihre Privatbeteiligtenvertreterin vermuten dagegen, es sei ein geplanter Anschlag gewesen – beweisen können sie es nicht.

Vor dem Hauseingang sei wieder ein Streit ausgebrochen, "er hat mich auch an der Kleidung gepackt und gedroht", sagt der Jugendliche. "Ich war verängstigt und wütend, dann habe ich das Messer gezogen." Und zugestochen.

Doch auf der Art und Weise, wie das geschah, baut Verteidiger Mayer seine Strategie auf. Für ihn war es nämlich kein Mord, sondern maximal absichtliche schwere Körperverletzung mit Todesfolge.

Nur ein Stich unter dem Brustbein

Die Sichtweise hat etwas für sich. Denn der Einstich erfolgte nicht im Herzbereich – sondern unterhalb des rechten Brustkorbes. Offenbar war er aber so wuchtig und der Winkel so steil, dass die Klinge durch die Leber bis hinauf zum Herzen reichte.

Das Opfer brach nicht zusammen, im Gegenteil. Es wankte zum Hauseingang, klingelte bei seiner Wohnung. Seiner Frau erzählte er, der Sohn von Y. habe ihn gestochen, und fragte, was er jetzt machen solle. Die Frau schickte ihn zur Polizei – bis dorthin schaffte es der 52-Jährige, bevor er zusammenbrach und im Krankenhaus verstarb.

"Wenn ich jemanden ermorden will und sehe, dass der weggeht und mit jemandem spricht, steche ich doch nochmals zu", appelliert Mayer im Schlussplädoyer an die Geschworenen. Y. hat das aber nicht gemacht: "Ich habe nur gesehen, dass er gegangen ist und geklingelt hat. Ich habe mir gedacht, jetzt habe ich einen Scheiß gebaut, aber Gott sei Dank ist nicht viel passiert, und bin weggelaufen", erzählt der Angeklagte.

Rückkehr zum Tatort

Er traf zunächst einen Freund, rauchte Cannabis mit ihm. Er ging zurück zum Tatort, sah kein Blut und keine Leiche. Seine Mutter rief an: "Sie hat gesagt, ich soll nicht draußen herumspazieren, damit mir die anderen Angehörigen nichts machen."

Er ging zu einem weiteren engen Freund der Familie. Dort erfuhr er, dass das Opfer gestorben ist, die Nachricht hatte sich in der Community rasch verbreitet. Daraufhin fasste er den Entschluss, sich zu stellen.

Der enge Bekannte begleitete ihn – und wird als Zeuge selbst aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Es stellt sich heraus, dass es sich um Abdullah P. handelt – der in dem Verdacht steht, millionenschweren Förderbetrug mit Kindergärten begangen zu haben.

Häftling als Zeuge

Er widerspricht der Aussage eines Sohnes des Opfers, wonach er diesem einen Tag nach der Tat gesagt habe, Y. habe in Absicht gehandelt. "Ich wollte den Sohn beruhigen, habe gesagt, dass sein Vater unschuldig ist. Damit es keine Blutrache gibt, davor hatte ich Angst."

Die Beratung der Laienrichter dauert nicht allzu lange. Sie folgen Mayer und sprechen Y. einstimmig vom Mordvorwurf frei. Stattdessen wird er wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung mit Todesfolge bei einem Strafrahmen bis zu 15 Jahren nicht rechtskräftig zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Als der Angeklagte abgeführt wird, spielen sich vor dem Saal tumultartige Szenen ab. Zwei Justizwachebeamte haben alle Mühe, die Töchter des Opfers und weitere Familienmitglieder abzuwehren.

Die Frauen weinen und schreien, treten und spucken nach dem Verurteilten, der rasch von zwei weiteren Beamten fortgeschleift wird. Auch Vorsitzender Matschnig werden gellend Vorwürfe gemacht, sie lässt die Geschworenen über einen anderen Ausgang aus dem Landesgericht lotsen. Es sieht auch jetzt nicht so aus, als ob Rechtsfriede einkehren würde. (Michael Möseneder, 21.6.2016)