Der Himmel zeigt sich an diesem Frühsommertag in seinem wohl schönsten Blau. Hübsche Schäfchenwolken garnieren den atemberaubenden Ausblick: die mächtige Westwand des Hohen Gölls, Königssee, Watzmann, Hochkalter, Untersberg. Die Bergdohlen kreisen neugierig über dem Meer von bunten Sonnenschirmen, stets lauernd auf so manche Köstlichkeit, die achtlos von einem der üppig beladenen Touristen-Teller rollt. Es ist auch aus der Vogelperspektive ein guter Tag: Die große Aussichtsterrasse des Kehlsteinhauses ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Launige Biergarten-Stimmung in luftiger Höhe. Leberkäse, Weißbier, Gipfelschnapserl. Da bleibt wenig Platz für historische Details.

Nationalsozialistischer Größenwahn: Auf den Lift zum Kehlsteinhaus wartet man in der Kuppelhalle.
Christian Fischer

Die dunkle Geschichte des mächtigen Steinbaus auf dem Bergsporn unterhalb des Kehlsteingipfels in 1834 Meter Höhe hat man in einen schmalen Gang an der Rückseite des Gebäudes verbannt. Gerade einmal zehn Tafeln, museumsdidaktisch aufbereitet wie aus den 1960er-Jahren, zieren die Wand. Man muss als Besucher schon zufällig aus der richtigen Türe stolpern, um vor der Brettljaus'n zu erfahren, dass das Kehlsteinhaus untrennbar mit dem Dritten Reich verbunden ist.

Martin Bormann ließ das Berghaus von 1937 bis 1938 im Auftrag von Adolf Hitler erbauen. Der gigantische Bergbau war durch die exponierte Lage eines der aufwendigsten und vor allem gefährlichsten Bauprojekte innerhalb des "Führersperrgebiets" am Obersalzberg. Dort, wo die NSDAP ab 1934 systematisch Grundstücke kaufte oder sich aneignete, um am Ende über ein rund sieben Quadratkilometer großes Areal zu verfügen, das sich von der Tallage Berchtesgadens bis zum Kehlsteingipfel erstreckte.

Bedenkliche Motive

Die mit polierten Messingplatten und venezianischen Spiegeln verkleidete Kabine des 124 Meter hohen Aufzugs hat soeben den nächsten Schwung an Berggästen auf den Gipfel gebracht. Zielsicher steuern die Besucher den Hauptraum an. Vor dem wuchtigen Kamin, gleich neben dem T-Shirt-Stand, werden die Kameras und Handys gezückt. Es ist eines der beliebtesten Motive hier. Dass der Marmor ein Geschenk Mussolinis an Hitler war, erfährt hier niemand. Und selbst die rußgeschwärzte Jahreszahl 1938 fällt keinem auf. Auch am Eingang des Tunnels zum Kehlsteinlift findet sich nur der Schriftzug "Erbaut 1938". Und auch dort fehlen historische Erläuterungen.

Der Grat zwischen einer touristischen Nutzung und einer verantwortungsvollen Erinnerungskultur ist am Obersalzberg generell ein schmaler. Seit 1999 versucht das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) mit der Dokumentation Obersalzberg diesen schwierigen Weg zu gehen.

Die Terrassenhalle als einzig noch vorhandener Gebäudeteil des "Platterhofes" ist heute der "Berggasthof Obersalzberg"
Christian Fischer

Nicht einfacher wird die Gedenkarbeit durch die heutigen Besitzverhältnisse auf dem Gelände des ehemaligen zweiten Machtzentrums im Deutschen Reich. Der Freistaat Bayern hat das Kehlsteinhaus und die Dokumentation Obersalzberg der Berchtesgadener Landesstiftung übertragen. Wobei nur die inhaltliche Ausrichtung der Dauerausstellung dem Institut für Zeitgeschichte obliegt – nicht aber die wissenschaftliche Betreuung des Kehlsteinhauses. Dazu kommen Privatbesitzer wie etwa die Betreiber des Hotels "Zum Türken". Bereits in den 50er-Jahren ließ die geschäftstüchtige Wirtin direkt beim Hotel einen Bunkerzugang freigraben. Noch heute öffnet sich um 3,50 Euro das Drehkreuz in Richtung Untergrund. Die Treppe führt in jenen Bunkerteil, der früher Hitlers Leibwächtern zugewiesen war.

Braun im Bikini

Sylvia Necker, Historikerin vom Münchner Institut für Zeitgeschichte und Kuratorin der Dokumentation Obersalzberg, hat auf einer Holzbank am Kehlstein Platz genommen und beobachtet nachdenklich das Treiben auf dem Berg: "Ich will ja niemandem die Bratwurst wegnehmen. Und ich verstehe auch das touristische Interesse der Betreiber des Kehlsteinhauses. Aber man darf die Geschichte nicht einfach ausklammern. Am Obersalzberg hat sich nicht nur Eva Braun im Bikini gesonnt – hier wurden Entscheidungen über Krieg und Frieden und den Holocaust getroffen."

derStandard.at

Mit dem Einzug der Historiker vor 17 Jahren hat sich am Obersalzberg vieles bereits verändert. Die Tonbandstimme im Touristenbus plaudert jetzt während der Fahrt über die Kehlsteinstraße nicht mehr launig von einer "Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst", aus dem Kiosk sind die Schnapsgläser mit einem dem Reichsadler auffallend ähnlichen Aufdruck und Postkarten vom Berghof verschwunden.

Selbst die im rechtsextremen Arndt-Verlag erschienene Biografie von Bernhard Frank, dem letzten SS-Kommandanten am Obersalzberg, führt der Kiosk beim Berggasthof seit wenigen Jahren nicht mehr.

Für Sylvia Necker sind dies "enorm wichtige Schritte", am Ziel sei man aber "noch lange nicht". Konkret liegt bereits ein fertiger Entwurf einer völligen Neustrukturierung der Dokumentation Obersalzberg auf dem Tisch. "Einerseits eine komplette inhaltliche Neugestaltung der Dokumentation Obersalzberg, anderseits eine bauliche Erweiterung. Die Fläche für die Ausstellung soll auf mehr als das Doppelte wachsen", erläutert Necker.

Historikerin Sylvia Necker vor einer Hangstützmauer mit Geschichte. Es ist der letzte Rest von Hitlers Berghof.
Christian FIscher

Als Museum ungeeignet

Das bestehende Museum, erbaut auf den Resten des einstigen NS-Gästehauses "Hoher Göll", erwies sich bereits kurz nach der Eröffnung als zu klein. Necker: "Wir haben im Schnitt 170.000 Besucher pro Jahr. Dafür ist die jetzige Ausstellungsfläche ungeeignet."

Das neue Gebäude, geplant vom Vorarlberger Architekturbüro Aicher, soll in unmittelbarer Nähe zum jetzigen Ausstellungsgebäude entstehen – und direkt in den Berg hineingebaut werden. Zusätzlich ist ein weiterer Zugang zu den noch bestehenden Bunkern geplant, um einen unterirdischen Rundgang zu ermöglichen. Aktuell liegen die Baukosten bei rund 20 Millionen Euro. Das stößt Teilen der Landespolitik noch ein wenig sauer auf. Dem Vernehmen nach sollen die Kosten zwar jetzt noch einmal evaluiert werden, der Freistaat will aber an der bereits erteilten Zusage festhalten.

Mit der neuen Ausstellung wolle man dann deutlich mehr mit Originalen, "mit dreidimensionalen Objekten" arbeiten, sagt Necker.

Nazis im Gehölz

Doch der eigentliche Kern der Neukonzipierung ist, Trennlinien aufzuweichen und eine wissenschaftlich aufgearbeitete historische Einheit am Obersalzberg wiederherzustellen. "Wir wollen nicht nur die Dokumentation, sondern auch die Einbeziehung des historischen Areals. Zusammen mit unserem Kooperationspartner, der Berchtesgadener Landesstiftung, planen wir gerade eine neue Ausstellung im Kehlsteinhaus. Genauso braucht es aber künftig die längst überfällige Einbindung des ehemaligen Berghof-Areals", ist Necker überzeugt.

Der Blick vom Kehlstein ins Berchtesgadener Land.
Christian Fischer

Die Ruine des nach britischen Bombenangriffen 1945 schwer beschädigten Landhauses Hitlers wurde am 30. April 1952 endgültig gesprengt – und bezeichnenderweise sollte schnell wachsendes Gehölz die dunkle Geschichte vergessen machen. Funktioniert hat das hölzerne Verdrängungsprinzip letztlich nicht.

Heute gehört das Areal der Bayerischen Landesbank, der Umgang mit der Geschichte ist aber nicht lockerer geworden. Kein offizieller Wegweiser führt vom eigentlichen Ausstellungsgebäude zum ehemaligen Berghof-Gelände. Folgt man aber einem per Hand auf einen Wanderwegweiser geschriebenen Hinweis, gelangt man zu den letzten Resten des braunen Machtzentrums. Heute noch erhalten ist lediglich eine Hangstützmauer an der Südseite des Geländes. Dort hat man den Historikern die Möglichkeit gegeben, zumindest eine erklärende Tafel aufzustellen.

170.000 Besucher zählt die Dokumentation Obersalzberg jährlich.
Christian Fischer

Den Beweis, dass es ein Trugschluss ist zu glauben, man könne historisch so extrem belastete Orte wie das Berghof-Areal möglichst im Wald verstecken und sich so den Ärger mit ewiggestrigen Besuchern ersparen, tritt Sylvia Necker im kleinen IfZ-Büro im unteren Stock des Dokumentationsgebäudes an.

In einem großen Karton verwahrt die Wissenschafterin die Fundstücke der letzten Monate: unzählige rote Grablichter, große Kerzen mit der Aufschrift "Danke, mein Führer", schwarze Schleifen, Hitler-Bilder, getrocknete Blumen. "Vor allem rund um Hitlers Geburtstag am 20. April flackern viele Lichter entlang der Mauer im Wald. Es ist ein gespenstischer Anblick."

Die Fundstücke werden eventuell in die neue Ausstellung einfließen: "Auch um zu zeigen, dass man diese Menschen nur von ihrem fragwürdigen Kult abhalten kann, indem man belastete Orte mit Leben erfüllt. Tut man das nicht, kraxeln die Ewiggestrigen durchs Gehölz." (Markus Rohrhofer, 26.6.2016)