Wien/Moskau – Es war Clemens Prokop vorbehalten, sich als erster hochrangiger Sportfunktionär aus der Deckung zu wagen. "Ich vermag nicht nachzuvollziehen, warum nur Leichtathleten betroffen sein sollen", sagte der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). Und: "Das Internationale Olympische Komitee ist gut beraten, auch über einen Ausschluss der gesamten russischen Olympia-Mannschaft nachzudenken."
Der Gedankengang des Juristen Prokop leuchtet vielen ein. Wenn, wie es am Freitag in Wien in der Begründung des Leichtathletik-Weltverbands IAAF zum Ausschluss der Russen hieß, "eine tief verwurzelte Kultur der Toleranz oder schlimmer gegenüber Doping" in Russland herrscht, warum sollte sich dies auf die Leichtathletik begrenzen?
Das IOC hat am Samstag schon den "starken Standpunkt" der IAAF gelobt. Am Dienstag kommt in Lausanne die IOC-Spitze mit Führungskräften vieler internationaler Dachverbände zum Olympia-Gipfel zusammen. Schon dabei könnte der Weg für weitere sporthistorische Entscheidungen bereitet werden. Man wolle "weitere weitreichende Maßnahmen anstoßen, um gleiche Bedingungen für alle teilnehmenden Athleten sicherzustellen", teilte das IOC mit. Dies könnte im Hinblick auf Rio weitere russische Sportverbände, wenn nicht das gesamte russische NOK betreffen. Auch andere Länder wie Kenia, Spanien und Mexiko, die von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) als "non-compliant", also nicht konform mit dem Wada-Regelwerk, definiert wurden, müssen zittern.
Großes Reinemachen
Das große Reinemachen im Weltsport hat womöglich erst begonnen. Am 15. Juli legt der kanadische Jurist Richard McLaren seinen Report über das vor, was er über die Machenschaften von Grigori Rodtschenkow, dem in die USA geflohenen Chef des Moskauer Dopingkontrolllabors, in Zusammenarbeit mit staatlichen Instanzen ermittelt hat. Olympia 2008 in Peking und 2012 in London, Leichtathletik-WM 2013 in Moskau, Olympia 2014 in Sotschi, Schwimm-WM 2015 in Kasan – es wurde wohl betrogen und manipuliert, was das Zeug hielt.
Im Lande des gefallenen Sportriesen geht man mit dem Thema wie gewohnt um. "Natürlich ist die Sperre unfair", polterte Staatschef Wladimir Putin. Alexander Schubkow, Präsident des Russischen Olympischen Komitees (ROC), versprach pathetisch, man werde "bis zum bitteren Ende kämpfen". Sportminister Witali Mutko forderte: "Die IAAF sollte aufgelöst werden."
Die Stabhochsprung-Weltrekordlerin und zweimalige Olympiasiegerin Jelena Issinbajewa (34) sprach gar von einer "Verletzung der Menschenrechte, zu der ich nicht schweigen werde. Ich ziehe vor einen Gerichtshof für Menschenrechte." Issinbajewa schwant, dass das von der IAAF geschaffene Schlupfloch für die Olympia-Teilnahme russischer Einzelsportler für sie nicht durchlässig ist. Denn nur Athleten, die im Ausland leben und getestet werden, also "ohne Verbindung zum System" sind, können eine Ausnahmeberechtigung für den Rio-Start erhalten. (sid, fri, 20.6.2016)