In der Kirche Mariä Himmelfahrt auf der Insel im Bleder See gibt es eine legendäre Glocke. Wer sie Maria zu Ehren läutet, dem soll ein Wunsch erfüllt werden.

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Aleš Šteger ist slowenischer Autor, Übersetzer, Lektor und Verleger.

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Wir können – wie früher üblich – das Orakel von Delphi nach dem Verbleib Europas befragen, jedoch bezweifle ich, dass wir – anders als Kadmos, der Bruder Europas in der griechischen Mythologie – eine brauchbare Antwort finden werden.

Europa wurde uns, den Bewohnern dieses Kontinents, in den letzten Monaten immer wieder geraubt. Geraubt in Form der wieder eingeführten Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, geraubt durch die hasserfüllte Sprache, die sich über den ganzen Kontinent ausbreitet, geraubt durch die Beschränkung unserer Perspektiven, die sich auch bei den größten Befürwortern eines vereinten Europas meist nur auf eine klägliche Besitzstandswahrung reduzieren.

Erschüttert beobachten wir die Rückkehr dunkler Zeiten, die uns täglich neue Gegenwarts- und Zukunftsszenarien aufzwingen. Europa wurde uns nämlich weder von Zeus noch von den Rechten geraubt. Tief in uns spüren wir die Machtlosigkeit als Ausdruck unserer Mitverantwortung für die Entführung Europas.

Wir, die angeblich freidenkenden Europäer, wir mit unseren kleinen Privilegien, wir mit unserem verdeckten Kolonialismus, wir tragen Mitschuld an der verfahrenen Situation. Um dem Druck der Verantwortung auszuweichen, schlüpfen wir zunehmend in die Opferrolle.

Verdrehung der Logik

Wie ist das möglich? Das ist nur möglich durch eine perfide Verdrehung der Logik, in der sich derjenige, der sich als Opfer deklariert, einen Vorteil verspricht. Das hat auch die radikale Rechte in Europa erkannt und sich dieser Logik bedient.

Der Logik des angeblichen Opfers, das sich der Gewalt von außen widersetzt, der Bevormundung durch Europa; das ist die Logik von Le Pen, Orbán und ihresgleichen. Sie sind die selbsternannten Opfer, Opfer der Politik der Linken, Opfer der Migration, Opfer der offenen Grenzen Europas, Opfer der schrittweisen Abkehr von der lokalen, nationalpolitischen und ökonomischen Hegemonie.

Allen anderen, die stumm dem Aufmarsch der Rechten, des Nationalismus, der selbsternannten Sheriffs zusehen, nützt die eigene Untätigkeit – oder sie hoffen es zumindest. Nach dem Vorbild der Rechten versuchen immer mehr Linke in Europa, die Ideale unserer Rechte zu renationalisieren, was empörend und verheerend ist.

Anders kann ich mir unsere Passivität, unsere Angst und das leise, aber nicht minder reale Abdriften des gesamten politischen Spektrums nach rechts nicht erklären. Ich frage mich, was diesen auf den ersten Blick unlogischen, aber emotional extrem starken Mechanismus des Sich-als-Opfer-Fühlens, den die extreme Rechte sich ungeniert zu eigen gemacht hat, bei den Wählern auslöst.

Betrachtet man das britische Referendum, wird deutlich, dass es sich sogar bei den überaus pragmatischen Briten nicht nur um pragmatische Argumente handelt. Praktisch alle Parteien im britischen Parlament sind gemeinsam mit der Regierung für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU. Führende Persönlichkeiten wie Obama oder der Papst, renommierte Ökonomen und politische Strategen raten von einem Brexit ab.

Den allgemeinen Umfragen zufolge hat all dies aber so gut wie keinen Einfluss auf die Meinung und die Anzahl der Euroskeptiker. Dabei geht es nicht bloß um Zahlen, Finanzen oder Parteizugehörigkeit, sondern vielmehr um die Reaktion auf ein Vakuum, ein identitäres, kommunikatives, ideenreiches Vakuum, das Europa mit seiner bürokratischen, bürgerfernen, hochnäsigen Art in den letzten zwei Jahrzehnten geschaffen hat.

Im ideologischen Schraubstock

Schon im ehemaligen Jugoslawien waren die Verantwortlichen aller Teilrepubliken glücklich darüber, dass eine Zentralregierung in Belgrad existierte. Soweit der ideologische Schraubstock es irgendwie zuließ, war sie der Sündenbock für alles, auch für das, was gar nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel.

Ähnlich ist es auch mit Brüssel. Bleibt der EU denn wirklich nichts anderes übrig, als dem eigenen Zerfall zuzusehen? Es sieht nämlich so aus, als ob dies erst der Anfang wäre.

Mögen die Appelle der britischen Intellektuellen in den letzten Wochen ein noch so hohes Maß an "politisch korrekter" Anbiederung erreicht haben: "Lasst uns zusammenbleiben, lasst uns einander lieben, lasst uns Spaß haben"; bei den proeuropäischen Intellektuellen hat schon seit geraumer Zeit auch ein anderes, paralleles Denken eingesetzt, das auf das Referendum von oben herabsieht und Ausstiegsszenarien durchspielt.

Bis dato artikulieren sich mehr oder minder unterdrückte Frustrationen: vom Spekulieren über eine allmähliche Ablösung des Englischen als zentrale EU-Kommunikationssprache über eine Schwächung der City of London, die als die insgeheim größte Steueroase dieses Planeten gilt, bis hin zum Ausschluss der britischen Fußballvereine aus der Champions League.

Die britische Skepsis und Sturheit bewirkt Skepsis und Sturheit auf der anderen Seite, "overseas", wie die Engländer traditionell alles nennen, was sich jenseits des Ärmelkanals befindet. Uns bedroht ein extrem gefährlicher Virus, der mit dem Argument der Identität eine Rückbesinnung auf nationale Interessen fordert.

Die griechische Mythologie lehrt uns, dass König Agenor, Europas Vater, seine Tochter nie wiederbekommen hat. Muss denn wirklich immer die Logik der Selbstsucht, die Logik der mentalen Schwäche, die Logik der Gewalt die Oberhand gewinnen? (Aleš Šteger, Übersetzung aus dem Slowenischen: Mateja Poredos, 20.6.2016)