Die Vjosa ist der letzte große Wildfluss außerhalb Russlands. Wissenschafter fordern daher ein dreijähriges Forschungsprojekt.

Foto: riverwatch

Wien – Die Vjosa gilt als der letzte unregulierte Wildfluss Europas außerhalb Russlands. Sie entspringt im Epirus im Nordwesten Griechenlands und mündet in Albanien in die Adria. Auf 270 Kilometern fließt sie fast frei von technischen Verbauungen. Ihr Flussbett wird dabei bis zu zwei Kilometer breit. Wissenschafter betonen regelmäßig, dass dieses Flusssystem noch weitgehend unerforscht ist. Mitte Juni trafen sich in Albanien Experten der Universität Wien, des österreichischen Umweltbundesamtes, des deutschen Leibniz-Institutes für Gewässerökologie und Binnenfischerei und Wissenschafter aus Albanien, um über die Zukunft der Vjosa zu diskutieren. Denn die Zeit drängt: Von Slowenien bis Albanien sind 2700 Projekte geplant, der Standard berichtete.

Der Ausbau an erneuerbarer Energie ist auch für Albanien verlockend, es wird jedoch das Ausmaß kritisiert. Die Wissenschafter verabschiedeten daher ein gemeinsames Forderungspapier, das an das albanische Umweltministerium übergeben wurde. Die Forscher fordern, dass sämtliche Kraftwerksprojekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach EU-Standards unterzogen werden.

"Die Umweltprüfungen in Albanien sind in der Regel nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. Unser Wissen über die Flora und Fauna sowie über die Geschiebesituation an der Vjosa ist zu gering, um eine seriöse Prüfung durchzuführen. Es fehlt an Wissen, an Forschung", übt Aleko Miho von der Universität Tirana massive Kritik an der von der Regierung vorgegebenen Qualität der UVPs.

Auch Ulrich Eichelmann von der Umweltschutzorganisation Riverwatch fordert die Umsetzung besserer Prüfverfahren: "In der Regel werden bei der UVP kaum oder gar keine Erhebungen vor Ort gemacht. Es werden also nicht die Brutvogelbestände, die Fische und die Pflanzen kartiert." Es werde auch nicht untersucht, wie viel Schotter der Fluss transportiert.

Dreijähriges Moratorium

Die Wissenschafter empfehlen daher ein dreijähriges Moratorium für alle Bauvorhaben. Dieses Zeitfenster soll für Forschung von albanischen und internationalen Wissenschaftern genutzt werden.

Die albanische Regierung hat erst kürzlich den Bau eines Großkraftwerks an dem Wildfluss beschlossen. Das Projekt "Poçem" mit einer mindestens 25 Meter hohen Staumauer würde einen noch völlig unerforschten Flussabschnitt überfluten. Die Konzession wurde an ein türkisches Unternehmen vergeben.

Das Europaparlament hat bereits im April die albanische Regierung in seiner Stellungnahme zu dem Erweiterungsbericht aufgefordert, "den Bau von Wasserkraftanlagen in ökologisch gefährdeten Gebieten wie entlang der Vjosa und in Schutzgebieten zu kontrollieren", die Qualität der UVPs an EU-Standards anzupassen sowie die Bevölkerung besser zu informieren und in die Planungen einzubeziehen. Diese Forderungen werden bei diesem Projekt bisher vollständig ignoriert, heißt es aus dem Büro von Ulrike Lunacek, der grünen Vizepräsidentin des EU-Parlaments.

Kritik des EU-Parlaments

Lunacek unterstützte die "Balkan River Tours", in deren Rahmen Paddler 35 Tage lang an der Vjosa und ihren Nebenflüssen unterwegs waren und gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung gegen die geplanten Kraftwerke protestierten. Angeführt wurden die etwa 150 Sportler und Aktivisten vom ehemaligen slowenischen Olympioniken Rok Rozman. Ein Ziel der Aktion war es, dass die gesamte Vjosa zum Nationalpark erklärt wird.

"Albanien ist EU-Beitrittskandidat, und es wäre fatal, wenn die wertvollsten Naturschätze, die das Land in die EU einbringen kann, vor dem Beitritt zerstört würden", sagte Lunacek. Das mindeste, was die Regierung machen müsste, sei, "Pocem" nach allen europäischen Standards zu prüfen und erst dann über die Genehmigung eines Baus zu entscheiden, forderte sie.

"Wir sollten zusammenarbeiten, damit hier nicht dieselben Fehler passieren, die wir in der Vergangenheit an unseren Flüssen in Deutschland oder auch Österreich gemacht haben", betonte Martin Pusch vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin im Rahmen der Konferenz. Denn durch Staudammbau und Uferverbau graben sich die meisten Flüsse Mitteleuopas aufgrund von Geschiebemangel immer weiter in den Untergrund ein, was als Tiefenerosion bezeichnet wird. Beim Rhein handelt es sich laut Pusch zum Beispiel um örtlich bis zu fünf Zentimeter pro Jahr.

"Da diese Tiefenerosion technisch nicht zu stoppen ist, muss man dem Rhein unterhalb der letzen Staustufe ständig durch technische Geschiebezugabe Kies zugeben, und zwar 185.000 Kubikmeter pro Jahr, eine Ende ist nicht abzusehen", so der Wissenschafter. Ähnliche, durch Überregulierung entstandene Tiefenerosionsstrecken gebe es auch an der Mittelelbe und an der Donau ab Wien, ergänzt Pusch.

Zudem werde die Hochwassergefahr durch Flussbegradigung und -aufstau erhöht, wie etwa am Oberrhein gut nachgewiesen, sagt der Experte: "Die großen Schäden durch die Sommerhochwasser in Deutschland im Jahr 2013 werden auf die Eindeichung von Flüssen zurückgeführt." Dadurch habe das Hochwasser weniger Platz zur Verfügung gehabt, es wurden höhere Wasserstände erreicht.

Der albanische Ministerpräsident Edi Rama verteidigt die umstrittene Energiepolitik des Landes damit, dass es in Albanien immer wieder zu massiven Energieengpässen komme. "Albanien kann seinen Strombedarf auch decken, ohne unersetzliche Landschaften zu zerstören, etwa durch Solarparks, die in unfruchtbaren Flächen gebaut werden könnten", schlägt Pusch Alternativen vor. (Julia Schilly, 16.6.2016)