Die Heuballen mit den Botschaften sind nicht zu übersehen. "Vote Leave!" steht in übergroßen Lettern auf den Plakaten, die auf Feldern zwischen den Industriestädten in Nordengland die Straßenränder säumen. Botschaften der "Remain"-Kampagne gibt es nicht. Auch in den Zentren selbst sind die EU-Befürworter kaum sichtbar. Obwohl deren Bewohner doch eher zur EU tendieren – sagen zumindest Umfragen.

Wer die Menschen dort selbst nach ihren Meinungen fragt, merkt schnell, dass es höchstens oberflächlich um Europa geht. Denn das, was die EU angeblich für sie tut, ist in der täglichen Lebenswelt der meisten von ihnen kaum wahrzunehmen.

Ersatzweise denken viele an andere Dinge: Viel schneller als das Wort "Brüssel" fällt der Name des Premiers. David Cameron, dem Fahnenträger der EU-Befürworter, nimmt kaum jemand seine Europabegeisterung ab.

Teilweise verkehrt sich das Engagement des Regierungschefs ins Gegenteil – unter jenen Labour-Anhängern etwa, die seit den Privatisierungen und dem Sozialabbau der Thatcher-Ära tiefe Abneigung gegen die Tories verspüren.

Je stärker der Premier Stimmung für den Verbleib macht, desto mehr entsteht bei ihnen der Eindruck, dass die Union vielleicht doch nur den Privilegierten nützt, denen seine Politik auch sonst so manche Vorteile beschert. Und je mehr die Pro-EU-Kampagne diese Menschen mit den Anhängern Donald Trumps und anderer Populisten vergleicht, desto weniger fühlen sie sich ernst genommen.

Auch die Warnungen vor einem Absturz der Wirtschaft können bei jenen, die ohnehin nicht den Eindruck haben, von ihrer derzeitigen Stärke zu profitieren, die Stimmung nicht drehen. Daher ist es auch fatal, dass Jeremy Corbyns Labour-Führung so lange keine engagierte proeuropäische Position bezogen hat. Für seine jüngste Strategieänderung könnte es nun schon zu spät sein.

Noch größer ist aber die Katastrophe, die Camerons Wahlstrategie im Lager seiner eigenen Befürworter angerichtet hat. Der Premier mag sich als gewiefter Taktiker gesehen haben, als er vor einem Jahr mit einem EU-kritischen Kurs in die Unterhauswahlen gegangen war und die schwache Labour-Partei dabei deutlich geschlagen hatte. Offenbar war in der Euphorie zu leicht zu übersehen, dass fast 13 Prozent der Briten trotzdem den Schmied, die EU-feindliche Ukip, wählten.

Cameron ging als EU-Kritiker in die Wahlen und reiste danach mit Austrittsdrohungen zu den Reformverhandlungen nach Brüssel. Wenn er nun selbst mit wirtschaftlichen Katastrophenszenarien vor einem Austritt warnt, dann darf er sich über ein massives Glaubwürdigkeitsproblem also nicht wundern. Auch dann nicht, wenn die Warnung vor den wirtschaftlichen Abgründen diesmal ausnahmsweise seinen tatsächlichen Ängsten entsprechen sollte.

Noch ist nicht gesagt, dass sich eine Mehrheit der Briten wirklich gegen die EU aussprechen wird. Und es gibt, glauben Politologen, auch Gründe dafür, dass Umfragen die Stärke der EU-Befürworter unterschätzen könnten.

Eine Niederlage würde das Ende für Camerons politische Karriere bedeuten. Aber auch bei einem Sieg müsste er sich heikle Fragen stellen: etwa jene, ob ein verantwortungsvoller Premier die langfristige Zukunft seines Landes für kurzfristigen politischen Opportunismus opfern darf. Lautet die Antwort Nein, müsste er auch daraus die Konsequenz ziehen. (Manuel Escher, 14.6.2016)