Bild nicht mehr verfügbar.

Mit Statuen setzte man am Sonntag vor dem New Yorker Stonewall ein Zeichen gegen die Angst. Viele Menschen aber beginnen erst mit der Verarbeitung des Traumas.

Foto: APA/AFP/Getty Images/Graf

"Macht euch nichts vor", sagt Chris Enzo. "Das Trauma wird bleiben, das hier werden wir lange nicht abschütteln können, es muss ja erst noch einsickern. Wir stehen doch ganz am Anfang." An Laternenmasten, in Schaufenstern, an der McDonald's-Reklame, überall in Orlando sieht man bereits die Parole, die helfen soll, den Blick nach vorn zu richten: "Orlando Strong." Orlando ist stark. Enzo weiß, im Augenblick ist es Wunschdenken, eine Art Pfeifen im Walde. Er jedenfalls will gar nicht verhehlen, dass er unter Schock steht, nervös, verunsichert, fahrig ist. "Unsere Gemeinschaft ist ja so klein. Man hat das Gefühl, wir waren alle Zielscheiben", sagt Enzo.

Der 25-Jährige, der regelmäßig in einem Schwulenclub kellnert, um sein Studium zu finanzieren, bangt um Rodney Sumter, seinen Freund. Der stand in dem Moment, als der Angreifer Omar Mateen das Feuer eröffnete, im Pulse hinterm Tresen. Die Frau, für die er gerade einen Drink mixte, fiel vor seinen Augen zu Boden, wahrscheinlich tot, er weiß es nicht genau. Selbst von Kugeln an der Schulter und am Ellbogen getroffen, ging Sumter hinter der Theke in Deckung, bevor er es irgendwie nach draußen schaffte. So hat er es Enzo erzählt, der es Wort für Wort wiederholt. Der Freund wird durchkommen, weiß Enzo, seit er ihn im Krankenhaus besuchte. Was bleiben wird, sind die seelischen Wunden, gepaart mit dem Gefühl, als Gruppe ins Visier eines gewaltbereiten Fanatikers geraten zu sein. "Es sind ja immer dieselben Leute, die diese Clubs besuchen. Jeder kennt jeden, es ist, als hätte es deine Familie getroffen", sagt Enzo.

Es ist spät am Abend, rund zwanzig Stunden nach dem Blutbad. Enzo muss reden, um das Geschehene zu verarbeiten. Er ist dorthin gekommen, wo die Reporter warten, Grant Street Ecke Orange Avenue, drei Straßenecken vom Tatort entfernt. Das Reklameschild eines Heimwerkerladens flackert im Dunkeln, Polizisten achten darauf, dass niemand das gelbe Plastikband passiert, auf dem "Crime Scene" steht. Irgendwo dahinter, zwischen einfachen Cafés und billigen Imbissbuden, liegt das Pulse.

Banges Warten

Die Innenstadt, das Areal rings um das Pulse, lässt an einen Kriegsschauplatz denken. Hubschrauber knattern am Himmel. Und das Lokalfernsehen zeigt eine erschütternde Szene nach der anderen: verzweifelte Menschen, die auch dreißig Stunden nach der Tat noch nicht wissen, wie es ihren Kindern, ihren Geschwistern, ihren Cousins geht, ob sie leben oder nicht. Eine Frage wird an der Grant Street Ecke Orange Avenue zwangsläufig in fast jedem Gespräch gestellt: Was ist passiert mit dem 29-jährigen Omar Mateen? Mit dem Mann, dessen Name sich für viele mit einem zweiten 9/11 verbindet, mit einem Terrorakt, der ähnliche Spuren hinterlässt wie die Attentate am 11. September 2001, auch wenn die Opferzahl deutlich kleiner ist.

Mateen, so viel scheint klar, muss das Blutbad mit großer Präzision geplant haben. Die Waffen, mit denen er im Pulse um sich feuert, eine Pistole der Marke Glock und ein Sturmgewehr vom Typ AR-15, konnte er so mühelos erwerben, wie andere einen Autoreifen kaufen. Vor neun Jahren heuerte er bei G4S Secure Solutions, einer großen Sicherheitsfirma, als Wachmann an. Nach Angaben des Unternehmens wurde er zweimal, 2007 und 2013, bei Routinetests psychologisch untersucht. Seine geschiedene Frau, er war nur zwei Jahre verheiratet, charakterisiert ihn als reizbaren Menschen, der sie aus kleinstem Anlass geschlagen habe, etwa wenn die Wäsche noch nicht gewaschen war.

2013 und 2014 nahm das FBI den in New York geborenen Sohn afghanischer Eltern näher unter die Lupe. Beim ersten Mal soll er ins Visier der Bundespolizisten geraten sein, nachdem er gegenüber Kollegen mit angeblichen Kontakten zur Terrorszene geprahlt hatte. Beim zweiten Mal stand er wegen möglicher Verbindungen zu radikalen Islamisten im Fokus, namentlich zum Selbstmordattentäter Munir Mohammad Abu Salha, einem US-Bürger, der sich in Syrien in die Luft sprengte. Abu Salha lebte in Fort Pierce, einer Küstenstadt im südöstlichen Florida, wo auch Mateen eine Zeitlang wohnte. Die Spurensuche des FBI jedenfalls ergab in beiden Fällen keinen erhärteten Verdacht, sodass der Massenmörder vor seiner Tat nicht unter Beobachtung stand, zumindest nicht unter intensiver.

Keine Kapitulation

Auf die Frage, ob sich das Land nun wohl zu schärferer Waffenkontrolle durchringen werde, antwortet Enzo mit skeptischen Blicken, bevor er nach kurzem Nachdenken erwidert, dass dies ja wohl wenig sinnvoll sei. "Wenn einer unbedingt töten will, wenn er es sich dermaßen in den Kopf gesetzt hat – ich glaube nicht, dass ihn ein schärferes Gesetz aufhalten kann." Ähnlich sieht es Andrew Sybert, 27 Jahre alt, ein Afroamerikaner aus dem ländlichen Alabama, der im toleranten Orlando einen Ort gefunden hat, an dem er sich offen zu seiner Homosexualität bekennen kann.

Auch Sybert spricht von der Angst. Seine Mutter habe angerufen, um ihm nahezulegen, für eine Weile keinen Schwulenclub mehr zu betreten. Den Gefallen hat er ihr nicht getan. In der Nacht zum Montag trifft sich Sybert demonstrativ in einer bekannten Bar mit seinen Freunden, im Stonewall im Zentrum Orlandos, benannt nach der berühmten New Yorker Kneipe, die in der Geschichte der Homosexuellenbewegung eine wichtige Rolle spielte. Sie wollen zeigen, sagt Syberts Kumpel Keith Vega, dass die Gewalt nicht siegen wird. "Wir wären nie so weit gekommen, wären wir bei jeder Sache vor lauter Angst auf die Knie gefallen." Im Stonewall, fügt er mit lauter Stimme hinzu, wird nicht kapituliert. (Frank Herrmann aus Orlando, 13.6.2016)