Verfassungsexperte Theo Öhlinger: Die regelwidrige Auszählung von Briefwahlstimmen könnte die Möglichkeit der Manipulation eröffnet haben.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Das gezeichnete Stimmungsbild klingt nach Diktatur. "Erheblicher psychischer Druck" sei bei der Präsidentenwahl ausgeübt worden, behaupten die Anwälte der FPÖ. "Beinahe im Sekundentakt" hätten Van-der-Bellen-Wähler im Internet Fotos ihrer Stimmzettel veröffentlicht, garniert mit Überschriften wie: "Norbert Hofer verhindert – check!"

Was die Anklage allerdings verschweigt: Auch mancher Freiheitliche war nicht allzu g'schamig, was das Outing des eigenen Wahlverhaltens betrifft. Am 22. Mai hatte Parteichef Heinz-Christian Strache selbst einen Stimmzettel mit Kreuzerl bei Hofer auf Facebook gepostet, inklusive Aufruf: "Deine Heimat braucht dich jetzt!"

Vor Lachern sei gewarnt

Der Schriftsatz, mit dem die FPÖ beim Verfassungsgerichtshof das Ergebnis bei der Bundespräsidentenwahl angefochten hat (der STANDARD berichtete), birgt noch manch andere Kuriosität. Doch vor voreiligen Lachern sei gewarnt: Denn das 152-seitige Konvolut bietet, wie der Verfassungsexperte Theo Öhlinger urteilt, auch schlagkräftige Argumente.

Zwei Beschwerden seien "sehr ernst zu nehmen", sagt der emeritierte Uni-Professor. Einerseits bekrittelt die FPÖ, dass Briefwahlkarten mancherorts nicht von der ganzen Wahlkommission, sondern nur vom Wahlleiter oder gar gewöhnlichen Gemeindebediensteten ausgezählt worden seien. Eine solche Praxis eröffne tatsächlich die Möglichkeit, dass Einzelpersonen das Ergebnis manipulieren können, meint Öhlinger – wiewohl er so etwas keinesfalls unterstellen wollen.

Vorzeitige Hochrechnungen

Für ebenfalls gewichtig hält der Jurist den Vorwurf der FPÖ, dass Zwischenergebnisse schon vor Schluss des letzten Wahllokals im Internet kursiert seien. Hochrechnungen, die den blauen Kandidaten früh am Wahltag als deutlich Führenden auswiesen, könnten das spätere Endergebnis beeinflusst haben, so das Argument: Sie könnten potenzielle Hofer-Wähler in Sicherheit gewogen und Van-der-Bellen-Anhänger zum Gang ins Wahllokal motiviert haben. Zwar untersage das Gesetz vorzeitige Hochrechnungen nicht dezidiert, erklärt Öhlinger, doch aus dem Prinzip des freien Wahlrechts könnte man ein Verbot durchaus ableiten.

Ob Zeugen und Vorwürfe der FPÖ einer Überprüfung standhalten, entscheidet nun der Verfassungsgerichtshof. Die Höchstrichter werden die Stichwahl allerdings nur dann aufheben, wenn Regelverstöße den Wahlausgang verändert haben könnten.

Aufhebung nicht unwahrscheinlich

Was, wenn derartige Auswirkungen belegt werden, das Ausmaß aber jene 30.863 Stimmen unterschreitet, um die Van der Bellen vorne lag? Das Gericht werde so lange auf eine Wahlaufhebung verzichten, als die Verstöße klar eingrenzbar sind, glaubt Öhlinger – "sobald es in Richtung der 30.000 geht, wird die Wahl wohl wiederholt". Bisher hielt dies der Experte für unwahrscheinlich. "Doch nun", sagt er, "muss ich meine Meinung revidieren." (Gerald John, 13.6.2016)