Fast ein Jahr ist es schon wieder her, dass sich der Blick der Öffentlichkeit in Sachen Flüchtlingsdramen verschoben hat. Bis Sommer 2015 hatten alle mit Entsetzen auf die "Libyen-Route" im Mittelmeer geschaut. Tausende Menschen ertranken. Die EU-Militäraktion "Sophia" stoppte das Sterben – vorläufig. Dann verlagerte sich das Geschehen in die Ägäis. Hunderttausende kamen nach Griechenland und Nordeuropa, nicht zuletzt wegen der humanitären Geste von Kanzlerin Angela Merkel nach Deutschland.

Seit April ist die Seegrenze in Griechenland praktisch zu und Libyen wieder im Kommen – Folge des EU-Türkei-Abkommens mit Nato-Unterstützung, das vor allem Merkel durchgeboxt hat, obwohl wichtige EU-Partner warnten.

Nun beklagt sich eine Staatssekretärin im Namen des abwesenden deutschen Innenministers Thomas de Maizière beim EU-Rat in Luxemburg, gut zwanzig Partnerstaaten täten immer noch so, als hätten sie mit Migration nichts zu tun. Die legale Umsiedlung von Flüchtlingen komme nicht in Gang. Das ist ärgerlich. Aber gerade die deutsche Regierung und Merkel sollten besser über eigene Fehler nachdenken, statt vom moralischen Hochsitz aus zu klagen. Berlin schob das Flüchtlingsproblem jahrelang weg. Als es doch deutschen Boden erreichte, setzte sich Merkel oft über die Partner hinweg, etwas rechthaberisch in deren Augen. Das rächt sich jetzt, weil Verbündete fehlen. Nur die Abwehr der Flüchtlinge funktioniert, nicht aber deren Aufnahme. (Thomas Mayer, 10.6.2016)