Norbert Lammert (CDU) rügte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan scharf für seine jüngsten Äußerungen.

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Es war ungewöhnlich still im deutschen Bundestag, als dessen Präsident Norbert Lammert (CDU) am Donnerstag das Wort ergriff. Lammert sprach nicht für sich, sondern ausdrücklich für alle vier Fraktionen (CDU/CSU, SPD, Linke, Grüne), als er noch einmal auf jenes Thema zurückkam, das seit Tagen für Furor in Ankara sorgt: die Resolution, die die Massaker an den Armeniern vor 101 Jahren als "Völkermord" verurteilt.

Die Drohungen und Hassmails, die vor allem die türkischstämmigen deutschen Abgeordneten seither bekommen, verurteilte er ebenso wie die Aussage des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, wonach das Blut dieser Abgeordneten "verdorben sei" und durch einen Bluttest untersucht werden müsse.

"Angriff auf das ganze Parlament"

"Jeder, der durch Drohungen Druck auf einzelne Abgeordnete auszuüben versucht, muss wissen, er greift das ganze Parlament an", sagte Lammert. Die Drohungen und Schmähungen seien leider auch durch Äußerungen hochrangiger türkischer Politiker befördert worden. Lammert: "Dass ein demokratisch gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich nicht für möglich gehalten."

Für seine Rede gab es Applaus aus allen Fraktionen, demonstrativ klatschte auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf der Regierungsbank Platz genommen hatte, Beifall. Die Linke sagte ob Lammerts klarer Worte dann eine von ihr beantragte aktuelle Stunde zu diesem Thema für den Nachmittag ab.

Merkel: Vorwürfe Ankaras "nicht nachvollziehbar"

Merkel hatte sich schon zuvor geäußert und erklärt, deutsche Parlamentarier seien "frei gewählte Abgeordnete, ausnahmslos, und die Vorwürfe und die Aussagen, die da jetzt gemacht werden von der türkischen Seite, halte ich für nicht nachvollziehbar". Scharfe Kritik kommt auch von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Er betonte, "Parlamentarier, die sich im Rahmen ihres Mandats positionieren, dürfen unbeschadet etwaiger Meinungsverschiedenheiten in einer politischen Frage keinesfalls in die Nähe von Terroristen gerückt werden".

Erdoğan aber legte nach und beschimpfte den deutschen Grünen-Chef Cem Özdemir, der die Resolution federführend ausgearbeitet hatte, als "charakterlos" – ohne ihn beim Namen zu nennen. Laut der Zeitung "Hürriyet" hat eine Gruppe türkischer Abgeordneter jene elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten, die für die Resolution gestimmt hatten, wegen "Beleidigung des Türkentums und des türkischen Staates" angezeigt. Ob ein Verfahren eröffnet wird, ist nicht klar. (Birgit Baumann aus Berlin, 9.6.2016)