Wien/Istanbul – Michael Enzinger, Präsident der Rechtsanwaltkammer Wien, sieht den Rechtsstaat in der Türkei ist in seinen Grundfesten gefährdet. Er zieht Parallelen zum Iran von vor zehn Jahren und erinnert an die eigene, düstere europäische Vergangenheit während der Nazizeit. Die EU halte sich mit Kritik an der türkischen Justiz zu sehr zurück, sagte er am Donnerstag in Wien.

Ein durch eine Polizeikugel getöteter kurdischer Menschenrechtsanwalt, Schauprozesse gegen türkische Anwälte und der berüchtigte Terror-Paragraf, der Strafverteidiger, Akademiker und Journalisten zu Propagandisten und Unterstützern des Terrors der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK erklärt: Der Chef der Wiener Anwaltschaft warnte vor Journalisten eindringlich vor dieser "gefährlichen Entwicklung", die in der Türkei stattfinde. "Wenn selbst Anwälte drangsaliert und beeinträchtigt werden, ist Feuer am Dach", ließ Enzinger wissen.

"Absolut unvertretbar"

In Europa hätten in den Jahren 1938 bis 1945 "unter dem Deckmantel des Rechts und der Verordnungen" grauenhafte Geschehen stattgefunden. Ein ähnliches Vorgehen, dieses in Europa vertraute "Muster", Warnzeichen einer bedrohlichen Entwicklung, sehe er jetzt auch in der Türkei.

Enzinger wies darauf hin, dass die Türkei als EU-Beitrittskandidat verpflichtet ist, die Rechtsnormen der EU-Grundrechtscharta umzusetzen. Die derzeitige Entwicklung sei "absolut unvertretbar" und mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar. Das Fehlen eines fairen Verfahrens ("fair trial") sei ein absolutes Beitrittshindernis, stellte er klar.

Laufende Verurteilungen

Die unfairen Verfahren führten dazu, dass das Land laufend vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt werde. "Die Türkei nimmt bewusst eine Verurteilung in Straßburg in Kauf", so seine Einschätzung. Enzinger vermutet ein Muster in den zum Teil grob rechtswidrigen Prozessen.

Besorgniserregend sei auch die neuerliche Versetzung von Richtern, als Vorbereitung für Anklagen gegen Parlamentsmitglieder der prokurdischen HDP, deren Immunität aufgehoben wurde. Überall, wo die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit von Richtern ausgehebelt wird, sei die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr, betonte er.

Haft für Anwälte

Konkreter Anlass für die scharfen Warnungen des RAK-Wien-Präsidenten sind zwei laufende Prozesse in der Türkei. Dort droht Anwälten, die "Feinde" der türkischen Regierung vertreten und ihre Mandanten im Gefängnis besuchten, bis zu 22 Jahre Haft. Ein drittes, ähnliches Verfahren beginnt am 22. Juni in Istanbul. Im Brennpunkt dieser Prozesse steht die linksgerichtete Anwaltsvereinigung CHD. Ihre Vertreter haben sich immer wieder in der Vergangenheit für Minderheiten stark gemacht und standen auch im Zuge der Gezi-Proteste im Fokus. Zu ihrem Klientel zählen unter anderem linke und kurdische Parteien sowie Gewerkschafter.

Der ungeklärte Tod seines Amtskollegen im Vorjahr in der kurdischen Metropole Diyarbakir sei ein weiteres bedenkliches Zeichen, sagte Enzinger. Im November des Vorjahrs starb der prominente kurdische Menschenrechtsanwalt und Präsident der Rechtsanwaltskammer der Stadt Diyarbakir, Tahir Elci, durch eine Kugel in den Kopf. Bis heute ist nicht geklärt, wer die Täter waren, und ob es sich um einen Unfall oder eine Hinrichtung handelte. Fest steht nur, dass sie Kugel aus einer Polizeiwaffe stammte.

Auf rechtsstaatlicher Ebene sehe er Parallelen zum Iran von vor zehn Jahren, schränkte jedoch ein, dass der Iran, anders als die Türkei, niemals EU-Beitrittskandidat und NATO-Mitglied war. (APA, 9.6.2016)