Willi Ruttensteiner hat auch selbst gespielt, als Sportdirektor ist er deutlich erfolgreicher.

Foto: APA/Jäger

STANDARD: Von Spielphilosophie, Taktik und System war auch vor Jahrzehnten schon die Rede. Warum lässt sich trotzdem von einer noch jungen taktischen Revolution sprechen?

Ruttensteiner: Natürlich hat jedes Team eine grundsätzliche Spielphilosophie. Andererseits wirken die Voraussetzungen des jeweils aktuellen Spieles auf den konkreten Matchplan ein. Nur einfach zu sagen: "Das ist unsere Ausbildungsphilosophie, das sind unsere Positionsinhalte, bis hin zum Spielsystem", so wie früher vielleicht Ajax Amsterdam, so ein Zugang wäre überaltert. Heute wird viel stärker unter dem Begriff taktische Flexibilität ausgebildet.

STANDARD: Was bedeutet das?

Ruttensteiner: Das bedeutet, dass man sich auf dem Platz stark situationsbezogen verhält. Die Räume öffnen und schließen sich ja dauernd und irrsinnig schnell. Die Spieler müssen die Situationen möglichst rasch lesen und lösen können. Es ist mittlerweile schwer für den Trainer, direkt vom Spielfeldrand Dinge anzusprechen, weil alles sehr hektisch abläuft. Der Trend geht daher in die Richtung, spezielle Matchpläne zu erstellen und zu überraschen.

STANDARD: Wie kann man einen 16-Jährigen dahin sensibilisieren, dass er nicht nur blitzschnell wahrnimmt, sondern eben auch entscheidet? Was Sie beschreiben, ist ja die Herausforderung unserer Gegenwart: Jedes Unternehmen bewegt sich in turbulenten Umwelten und muss ständig fähig sein, den Plan A zu verwerfen und einen Plan B anzuwenden.

Ruttensteiner: Das ständige Reagieren auf neue Situationen vergleiche ich immer mit dem Straßenfußball oder mit Ausbildungen in Afrika oder Südamerika, wo Spieler bis zum Alter von 13, 14 Jahren wenige Trainer sehen. Ein solcher Spieler hat so viele Impulse und Reize, wo er scheitert, wo er Lösungen finden muss, wo er sich pausenlos selbst organisiert. Um diesen Prozess nicht zu verlieren, muss man in so genannten "offenen Lösungen" trainieren. In der Schule würde man das als "freies Lernen" bezeichnen. Andererseits spielt die Bewusstseinsbildung eine große Rolle, also das, was wir irgendwann unter Erfahrung abgespeichert haben. Da setzt man sich mit dem Spieler hin und sagt: "Was ist jetzt eigentlich in der Situation passiert?" Oder man unterbricht das Training und sagt: "Das war fantastisch, was du gemacht hast." Man drückt sozusagen einen Stempel ins Gehirn, indem man gelungenes Verhalten positiv verstärkt. Beides sollte Teil der Ausbildung sein: Analysieren, Theorie einbringen, Videosequenzen schauen, visualisieren, aber auf der anderen Seite auch das Trainieren der Kreativität, der taktischen Flexibilität, des Zulassens.

STANDARD: Das ist wie beim Improvisationstheater: Jemand wirft dir einen Impuls hin, du musst das aufnehmen und damit was tun.

Ruttensteiner: Genau. Es reicht allerdings auch nicht, nur zu sagen: "Spielt vier gegen vier, und das, was ich sehe, coache ich." Es ist genauso wichtig zu sagen: "So will ich, dass wir vier gegen vier spielen, das ist der Inhalt in meiner Spielform, und den coache ich wirklich auch proaktiv." Diese beiden Rollen des Trainers und der Ausbildung sind entscheidend.

STANDARD: Was können die jungen Spieler in der Ausbildung an Informationen verarbeiten?

Ruttensteiner: Es ist ein ständiger Prozess, dem Spieler Rückmeldung zu geben. Manchmal sind wir zu vage hinsichtlich dessen, was wir von dem einzelnen Spieler wollen. Erst wenn auf beiden Seiten Klarheit herrscht, entwickelt sich eine funktionierende Vice-versa-Beziehung. Wenn alles verschwommen ist, wird es schwierig. Man muss Spieler dort abholen, wo sie stehen, die Stärken und Schwächen herausarbeiten und dann schauen, welche Ziele man sich in der Weiterentwicklung setzt. Da geht es zunächst nicht um Ergebnisse, sondern um den Prozess. Wenn es Spielern und Trainern gelingt, diesen Prozess als Herausforderung für die persönliche Entwicklung beider zu begreifen, dann ist man auf einem guten Weg.

STANDARD: Wir haben ein starkes A-Team, aber es kommen auch Generationen nach. Es gibt eine gewisse Stabilität, Linie in der Ausbildung. Wie läuft die Organisation?

Ruttensteiner: Dass wir in den vergangenen zehn Jahren mit unseren Nachwuchsteams regelmäßig an großen Turnieren teilgenommen haben, ist kein Zufall. Das ist das Ergebnis einer kompletten Systemumstellung unter dem Begriff "österreichischer Weg". Dieses Konzept haben wir im Jahr 2000 formuliert, und wir haben alle Bereiche integriert, nicht nur das Spielsystem der Nationalmannschaften, sondern genauso Frauenfußball, Breitenfußball, Traineraus- und -fortbildung, die Individualisierung der Spieler.

STANDARD: Woher haben Sie Ihre Anregungen für diesen Entwicklungsprozess erhalten? Von wem haben Sie gelernt?

Ruttensteiner: In den 1990ern hatten wir eine sehr gute Nationalmannschaft, aber die hatte den Zenit nach der Qualifikation für die WM 1998 überschritten. Da hat man erkannt, dass wir Handlungsbedarf haben. In dieser Situation wurde ich zum Koordinator bestellt und vom damaligen ÖFB-Präsidenten Beppo Mauhart mit der Aufgabe betraut, ein Konzept zu erstellen. Mein erster Schritt war, zu schauen, was im ÖFB da war. Als ich mir im Vergleich bestimmte Systeme im Ausland angeschaut habe, war das zunächst ein furchtbares Erlebnis. Ich war in Spanien, in Frankreich, in Italien, und ich hab mir gedacht: "Das werden wir nicht mehr aufholen." Andererseits habe ich mir gedacht: "Es ist eine wunderschöne Aufgabe, etwas aufzuholen." Der erste Schritt war, ein Rohkonzept als Leitlinie zu formulieren. Das haben wir ein Dreivierteljahr später vorgestellt. Im Lauf der Jahre haben wir viele Nationen überholt. Die haben es nur nicht gemerkt, weil das Team noch nicht den Erfolg hatte.

STANDARD: Was das Thema individuelle Entwicklung betrifft, hat das A-Team einige herausragende Karrieren zu bieten, wie jene von Christian Fuchs.

Ruttensteiner: Christian Fuchs war beim SV Mattersburg ein Spieler unter anderen, wohl ebenso talentierten. Allerdings hat er etwas gemacht, was genau in die Richtung geht, die wir diskutieren: Er hat Heinz Griesmayer als Individualtrainer engagiert. Gemeinsam haben sie den Spielprozess und den Trainingsprozess hergenommen, haben ständig reflektiert und haben das radikal in Bezug auf die Reizsetzung für Fuchs individualisiert. Der Prozess hat bei ihm Spuren hinterlassen, denn er hat seine ganze Karriere geschaut, wo er steht, was für ihn gut ist und wie er sich weiterentwickeln kann, auch wenn er Probleme hatte.

STANDARD: Es gibt in der Gruppendynamik den Satz, dass das schwächste Glied nicht in den Beziehungen besteht, die die Leute untereinander haben, sondern in der Beziehung, die die Leute zu sich selbst haben. Was Sie über Christian Fuchs sagen, deutet stark in diese Richtung: Es ist die Arbeit an mir selbst, die entscheidend ist.

Ruttensteiner: Was wir machen, zielt immer – für mich noch viel zu wenig im Fußball – aufs Individuum ab. In Bezug auf individuelle Ausbildung im mentalen Bereich geht es um Kompetenzen: Was braucht der Christian Fuchs für Kompetenzen, um in der englischen Liga zu spielen? Was soll der Spieler beherrschen, wenn er die Akademie verlässt? Was soll ein Spieler mit 14 können? Das haben wir früher gar nicht gewusst. Heute machen wir uns über diese Kompetenzen Gedanken und bewerten sie: emotionale Kontrolle, Coachability, soziale Ressourcen, psychoregulatives System. Wir machen über unsere Nationalspieler Analysen, wie sich diese Kompetenzen über die Zeit entwickeln. Das haben wir lange Zeit vernachlässigt, die Trainer haben sich gewehrt, weil sie sich selbst für Psychologen hielten, aber darum geht es nicht. Es geht um das Nützen von Potenzial. Das haben wir mit Günter Amesberger von der Uni Salzburg entwickelt, der einer der besten europaweit ist. Er begleitet uns seit dem Challenge-08-Projekt und ist in Kooperation mit all unseren Sportpsychologen.

STANDARD: Das bedeutet aber auch, dass von Spielerseite eine Kultur des Vertrauens da sein muss, um sich zu öffnen und über Ängste und Defizite zu sprechen.

Ruttensteiner: Unsere Rolle beim ÖFB ist so etwas wie ein Supervising. Was uns fehlt, ist die intensive Arbeit im Detail. Wir haben die Spieler nur kurz da. Aber wir bringen die Ergebnisse unserer Analysen immer wieder zu den Vereinen, zu den Spielern. Tun müssen sie es selbst. Der ÖFB hat als Kompetenzzentrale die Rolle, Impulse zu geben und zu sagen, in welche Richtung es gehen sollte.

STANDARD: Insofern ist die Qualität des Prozesses vielleicht wichtiger als das Ergebnis. Ein solcher Prozess braucht aber auch Prinzipien, an denen man sich orientiert. Wie etabliert man eine solche mittel- bis langfristige Perspektive in der täglichen Arbeit?

Ruttensteiner: Wir sprechen in dem Zusammenhang von Prozesszielen, von Leistungszielen und natürlich auch von Ergebniszielen. Die Weiterentwicklung geht in Richtung taktischer Flexibilität.

STANDARD: Wir sprechen alle von den Ergebnissen, die interessieren uns. Die Ursachen, die zum Ergebnis führen, liegen im Prozess, oder?

Ruttensteiner: Es muss jemanden geben, der diesen Prozess steuert. Da ist es ganz entscheidend, dass die Prozessteilnehmer, dass jeder die Motivation hat, zu sagen: "Ich trage etwas bei. Ich nörgle nicht, sondern ich bin motiviert und lege meine Kraft hinein." Man muss über das reden, was schief gegangen ist, aber genauso über das, was funktioniert hat, damit ich es beim nächsten Mal wieder bewusst abrufen kann.

STANDARD: Es gibt den Begriff der Resilienz, und der hat immer zwei Bestandteile, nämlich die Agilität und die Standfestigkeit. Würden Sie zustimmen, dass ein ganz wesentlicher Teil dieser Standfestigkeit die Eckpunkte der Philosophie sind?

Ruttensteiner: Es gibt Anker, an denen wir uns orientieren. Bei uns gibt es allgemeine Grundprinzipien und spezielle Grundprinzipien. Ein allgemeines Prinzip wäre: Wir geben ein Spiel niemals auf. Es kann die 92., die 95. Minute sein, wir geben nicht auf. Ein spezielles Prinzip wäre: Wenn ein Spieler den Ball bekommt, soll er nie blind spielen. Daraus resultieren entscheidende Ballverluste.

STANDARD: Wie viele dieser Grundprinzipien gibt es?

Ruttensteiner: Im speziellen Bereich zwischen 20 und 30, im Allgemeinen um die zehn. Das ist in unserer Spielphilosophie festgeschrieben. Wir haben das mit unseren Trainern entwickelt. Marcel Koller hat nach seinem Antritt auch seine Prinzipien mitgenommen. Als wir uns zusammengesetzt haben, konnten wir diese gut integrieren. Da haben die anderen Trainer gesagt: "Das ist gut, das machen wir auch." Diese Prinzipien können Sie bei uns von von der U16 an beobachten. (Harald Katzmair, Helmut Neundlinger, 8.6.2016)