Die Reise zum Planeten Solaris führt den Wissenschafter Kris Kelvin in die eigene Kindheit zurück.


Foto: Daniel Zholdak

Arbeitet wie ein Schamane: Andriy Zholdak.

Foto: Vladimir Lupovskoy

Stanislaw Lems Roman Solaris (1961) ist der Idealfall für postdramatische Theatermacher. Es werden hier nicht nur Zeit und Raum aus den Angeln gehoben, sondern die Realität an sich in Frage gestellt: Ein Mann, der Psychologe Kris Kelvin, reist zu dem seit einhundert Jahren ergebnislos beforschten Planeten Solaris und muss feststellen, dass seine Kollegen dort auf rätselhafte Weise von menschgewordenen eigenen Erinnerungen heimgesucht werden. Vornehmlich sind es mit Schuld behaftete Gedanken, die sich neu kreieren. Bald wird auch Kelvin mit der Erscheinung seiner Frau Rheya konfrontiert, die sich, da er sie damals verlassen hatte, das Leben genommen hat.

Der Science-Fiction-Stoff wurde vielfach adaptiert, für den Film wie die Bühne. Der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak präsentiert nun seine Inszenierung ab diesen Freitag drei Abende lang bei den Wiener Festwochen im Museumsquartier (Halle E), Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr.

Zholdak, oft als Enfant terrible bezeichnet, lebt seit über zehn Jahren in Berlin und arbeitet in ganz Europa. Auch Japan und Australien hat er schon beliefert. In seiner Heimat Ukraine, wo sich alles gesellschaftliche Aufbegehren gegen die politischen Missstände richtet, ist Kultur derzeit nicht einmal ein Nebenschauplatz, meint er. Das zeitgenössische ukrainische Theater ist eine "dead class", so Zholdak im Standard-Gespräch, das nach einem langen Solaris-Probentag am Mazedonischen Nationaltheater stattfindet, das mit den Festwochen koproduziert.

Der erste Durchlauf weist noch Mängel auf. Schattenlinien fallen nicht exakt, das sensible Tempo wird nicht gehalten. Es gibt für den Regisseur also viele Gründe, richtig laut zu werden. Dass er als Berserker verschrien ist, weiß er. "Wie kannst du nur mit Zholdak arbeiten?!", sollen Kollegen den mazedonischen Starschauspieler Dejan Lilic gefragt haben, der nicht kniff und nun die Rolle des Kris Kelvin spielt.

"Ich bin auch für durchschnittliche Intendanten ein schwieriger Regisseur", gibt Zholdak zu. "Ich gehe vielen Impulsen nach, habe viele visuelle Ideen. Ich arbeite wie ein Schamane, versetze mich in extreme Situationen." Vor einigen Jahren lebte Zholdak zwei Monate bei einem Schamanen im Norden Norwegens, um dort, wie er sagt, "die wilde Energie in mich aufzusaugen". "Jetzt im Gespräch bin ich normal, aber wenn ich kreativ arbeite ... whooo. Das ist auch riskant." Westliche Regisseure hingegen hätten viel mehr Angst, Fehler zu machen, meint er.

Draußen im Umkreis des Theaters brennt indes die Sonne auf die vielen umstrittenen, vorwiegend die mazedonische Ethnie der Bevölkerung repräsentierenden Denkmäler der Stadt; die Regierung hat sie trotz massiver Vorwürfe bauen lassen. Das Theatergebäude reiht sich in die als "mazedonisches Disneyland" verunglimpfte Protzarchitektur am Ufer des Flusses Vadar ein. Jeder Stuhl in dem mit Gold, Brokat und Malerei überzogenen Theatersaal ist wie ein kleiner Thron. Die Toiletten: gülden wie in Dubai.

Auf der Bühne öffnet Zholdak sensible Erinnerungsräume. Sein Solaris beginnt mit der 16-monatigen Reise zum gleichnamigen Planeten. Kris Kelvin liegt im Raumanzug in einer Kapsel, Träume suchen ihn heim. Rotwildherden jagen durch Wälder; ein einfaches Haus steht allein in der weiten Landschaft. Er träumt vom Vater, der den Sohn gewaltsam in die Pflicht des Jagens einweist. Er träumt von seiner Schulzeit, von der Liebe zu Rheya, der Hochzeit. Insbesondere durch die Verstärkung der Tonebene (jeder Fußtritt ist synchronisiert) erhält das Geschehen in den bildmächtigen Räumen, die vom kinematografischen Interesse Zholdaks zeugen, eine geheimnisvoll-irreale Prägung. Dabei erzählt das Licht Geschichten. Dinge, die Zholdak bei seinem berühmten Lehrmeister, dem russischen Regieguru Anatoli Wassiljew gelernt hat.

Feinnervige Technik

Hatte sich Zholdaks letztes, schon länger zurückliegendes Festwochen-Gastspiel – Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch nach Alexander Solschenizyn (2004) – noch mit kraftmeierischen Ideen ins Gedächtnis eingebrannt (eine Horde kläffender Schäferhunde wurde auf Menschen gehetzt; eine Schlacht mit kübelweise rohen Eiern entfaltete denkwürdigen Geruch), so erinnern die Szenen der Solaris-Probe nunmehr gar an die feinnervige, technikgestützte Menschenkunde eines Robert Lepage. Zholdak lehnt jeden Vergleich allerdings dankend ab.

Bevor er Solaris las, hatte Zholdak die berühmte Verfilmung von Andrej Tarkowski schon gesehen (mit dem sowjetischen Filmemacher ist er übrigens verwandt: "Der Cousin meines Großvaters ist der Vater von Tarkowski"). "Ich interessiere mich nicht so sehr für Science-Fiction, mehr für die Motive in Lems Buch". Der Roman dient ihm als Impulsgeber: "Lem gibt mir die Möglichkeit, über jene Bereiche des Gehirns nachzudenken, die wir nicht kontrollieren können."

Und weiter: "Es sind so einfache Dinge wie das Wachrufen von Erinnerungen, wenn wir eine gewisse Musik hören." Deshalb ist für Zholdak auch jener Moment in Solaris so wichtig, in dem Kelvin nach 16 Monaten Raumfahrt aufwacht. "Dieser Zustand ist vergleichbar mit dem Aufwachen aus dem Koma oder aus der Narkose oder nach eigenartigen Träumen. Um solche Art Halluzinationen geht es in der Aufführung." (Margarete Affenzeller, 7.6.2016)