Anhänger von Bernie Sanders wünschen sich "europäische Verhältnisse" in den USA.

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Für viele Hillary-Clinton-Fans ist Sanders eher zum Störenfried geworden.

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Wann der Riss gekittet wird? Wann die Anhänger von Bernie Sanders überschwenken zu Hillary Clinton? Roxanne Dektor überlegt keine Sekunde, die Antwort sprudelt nur so aus ihr heraus: "Ich hoffe, nie. Ich jedenfalls werde Hillary nie, unter keinen Umständen, wählen. Man könnte mich foltern, ich würde es trotzdem nicht tun."

Ein Samstagmorgen in Woodstown, einer verschlafenen Kleinstadt in New Jersey. Am letzten Wochenende vor der letzten Vorwahl, die in einem amerikanischen Bundesstaat über die Bühne geht, haben sich die treuesten, eifrigsten Mitstreiter des Senators aus Vermont in der Ecke eines American Diner, eines Lokals für einfache Kost, um einen robusten Resopaltisch versammelt. Flugblätter sind zu sortieren, Routen zu entwerfen, bevor sie nachher durch Woodstowns ruhige Straßen mit ihren gepflegten Blumenrabatten ziehen, um an Wohnungstüren zu klingeln. Aus dem Lautsprecher schallt Adele, es riecht nach Kaffee, Speck und Toastbrot, auf einem Stück Pappe steht die Parole, die Dektor im Laufe des Gesprächs noch oft wiederholt – "Bernie or Bust". Es bedeutet, entweder Sanders oder keinen zu wählen, auch im November. Obwohl eigentlich bereits klar ist, dass der 74-Jährige nicht das Finale bestreitet.

Kurz vor dem Ziel liegt Clinton in der Summe der Delegierten, die auf dem Nominierungsparteitag im Juli endgültig entscheiden, so klar vorn, dass ihr Rivale wahre Erdrutschsiege einfahren müsste, um noch den Hauch einer Chance zu haben. Das wird nicht passieren, weder in New Jersey, wo sich ein Clinton-Triumph abzeichnet, noch in Kalifornien, wo es knapp werden dürfte.

Am Montagabend meldeten US-Medien, dass die Entscheidung gefallen sei: Die Agentur AP hat die bisherigen Aussagen der sogenannten Superdelegierten – insgesamt 714 hochrangige Parteivertreter, die sich frei für einen Kandidaten entscheiden dürfen – als Stimmen gewertet, womit Clinton die Hürde genommen hätte. Eine offizielle Bestätigung gibt es dafür zwar nicht, abgestimmt wird erst Ende Juli am Parteitag. Zeit also, Dienstagnacht die Siegerin auszurufen und die derzeit so zerstrittenen Reihen der Demokraten zu einen?

Hoffen auf Superdelegierte

Roxanne Dektor, 62 Jahre alt, weitgereist, verheiratet mit einem Veterinärmediziner, sieht das anders. Sie hat sich aufgerieben für "Bernie's Army", wie die Freiwilligen sich voller Kampfgeist nennen. Auf ihrem roten T-Shirt prangt ein Bernie-Konterfei, das mit stilistisch übertriebenem weißem Haarkranz an Albert Einstein denken lässt. Sogar ihr Hund, ein Retriever, heißt Bernie Sanders. Vielleicht fällt das Loslassen nach so langem Kampf einfach schwer, jedenfalls ist Dektor überhaupt nicht der Meinung, dass alles gelaufen sei. "Erstens, wer sagt denn, dass aus Hillarys E-Mail-Affäre nicht noch eine Anklage wird? Und zweitens, Bernie würde Donald Trump glasklar besiegen, während es bei Hillary gegen Trump auf der Kippe stünde." Beides, orakeln sie im Sanders-Lager, könnte die Superdelegierten noch bewegen, dem Senator den Zuschlag zu geben, obwohl nach jetziger Lage alles dagegen spricht.

Von den 715 Superdelegierten – Abgeordnete, Amtsträger und Parteifunktionäre, die sich nicht an das Ergebnis der Vorwahlen zu halten brauchen – haben 571 bereits angekündigt, sich auf dem Parteikongress zu Clinton bekennen zu wollen. "Kann sich alles noch ändern", orakelt Dektor, klammert sich an diesen Strohhalm. "Ich habe es jedenfalls satt, für das kleinere Übel zu stimmen, für Clinton, um Trump zu verhindern." Hillary, schimpft sie, sei im Grunde noch schlimmer, nämlich alte interventionistische Schule. Hätte sie Obama 2011 nicht überredet, in Libyen einzugreifen, hätte er sich nicht zu etwas hinreißen lassen, was er heute als Fehler bedauert. "Sie hat in Taten gezeigt, wofür sie steht. Trump hat es bisher nur mit seinem Mundwerk getan."

"Spielverderberdrehbuch"

Was, wenn Trump Präsident wird, weil "Bernie's Army" Clinton die kalte Schulter zeigt? Den Präzedenzfall dafür gab es im Jahr 2000. Al Gore hätte George W. Bush wohl in die Schranken verwiesen, wäre der Verbraucherschutzanwalt Ralph Nader nicht als Unabhängiger angetreten, womit er dem Demokraten Gore auf der Linken das Wasser abgrub. Das Spielverderber-Drehbuch, wie Sooren Moosavy es nennt. Ein Albtraumszenario, das ihn bewegen würde, doch noch für Clinton zu stimmen, "wenn auch mit zugehaltener Nase".

Geboren im iranischen Isfahan, eingebürgert und heute Chemiestudent im kalifornischen Berkeley, hat der Neunzehnjährige unzählige freie Stunden damit verbracht, für Sanders Klinken zu putzen. Fragt man ihn nach dem Warum, schlägt er den großen Geschichtsbogen. Seit Ronald Reagan vor 35 Jahren ins Weiße Haus einzog, seien die USA im Grunde Reagans Amerika, auch unter den demokratischen Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama. "Wir haben uns von der Mitte einfach zu weit nach rechts bewegt. Es ist höchste Zeit, dass es mal einen Ruck nach links gibt." Sanders würde das Ruder herumreißen und Kurs nehmen auf europäische Verhältnisse, wie Moosavy sagt. Auf kostenlose Universitäten, bezahlbare Krankenversicherungen, eine bessere Infrastruktur.

Gegen die Elite

Nächste Station Collingswood, eine Pendlerstadt im Vorortegürtel um Philadelphia. Jemand hat das Parterre seines Einfamilienhauses geräumt, damit sich "Bernie's Army" dort einquartieren kann. Es sind Enthusiasten wie Jonathan Taylor (22) ein angehender Grafikdesigner aus Kentucky. Taylor nimmt alle zwölf Monate 10.000 Dollar Kredit auf, um sein Studium zu finanzieren, obwohl sein College noch vergleichsweise preiswert ist. Nach fünf Jahren Uni werden 50.000 Dollar zusammengekommen sein, zurückzuzahlen zu einem Durchschnittszins von 5,7 Prozent.

Bernie or Bust? Taylor zieht sich diplomatisch aus der Affäre. Einerseits: "Nach der alten Tour funktioniert dieses Land nicht mehr, wer arm ist oder ein mittleres Einkommen hat, bekommt das heftig zu spüren." Das erkläre auch die Proteststimmung gegen die Elite. Ergo müssten die Demokraten gegen den Anti-Establishment-Kandidaten der Republikaner ihren eigenen Anti-Establishment-Kandidaten aufbieten – Sanders gegen Trump. Andererseits: Falls Clinton bereit wäre, für wichtige Punkte aus Sanders' Agenda zu kämpfen, etwa für einen gesetzlichen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde, wäre das auch schon was, meint Taylor. Folgt man dieser Logik, wird Sanders seine Konkurrentin noch ein Stück nach links drängen, bevor beide im Hochsommer ihre Versöhnung zelebrieren. Spätestens dann. (Frank Herrmann aus Woodstown, New Jersey, 7.6.2016)