Das Projekt der sozialen Marktwirtschaft war lange Zeit hindurch erfolgreich. Bürger wurden gegen existenzbedrohende Krisen wie Arbeitslosigkeit und Armut abgesichert. Eine aktive Finanzpolitik konnte das unentrinnbare Auf und Ab der Wirtschaft glätten. Deren stetiges Wachstum hat für Vollbeschäftigung gesorgt. Steuern und Transfers haben extreme Ungleichheit von Einkommen und Vermögen verhindert.

In den letzten 30 Jahren ist man von dieser Politik allerdings schrittweise abgerückt. Es wurde zum vordringlichen politischen Anliegen, den Anstieg staatlicher Ausgaben einzubremsen ("Mehr privat – weniger Staat"). Staatliche Investitionen wurden zurückgefahren. Spitzensteuersätze wurden gesenkt. Es kam zu keiner weiteren wesentlichen Verkürzung der Arbeitszeit. Trotz steigender Beschäftigung wächst das Heer der Arbeitslosen. Der Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Volkseinkommen sinkt, während die Spitzeneinkommen wachsen und die Einkommensunterschiede zunehmen. Der Wirtschaft schadet, dass sich Unternehmen zunehmend an kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktienbesitzer und nicht an einer langfristigen Strategie orientieren. Zusätzlich hat die von Deutschland oktroyierte Sparpolitik ein ohnehin schon langsames europäisches Wirtschaftswachstum auf null gedrückt.

Die Linksparteien haben sich dem nicht wirksam und sichtbar entgegengestellt. Dafür werden sie jetzt politisch abgestraft. Sie verlieren Einfluss, Mitglieder und Wahlen. Es trifft sie der berechtigte Vorwurf, ihre traditionellen Ziele aufgegeben und sich passiv einer ungesteuerten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik angepasst zu haben. Diese Anpassung war nicht notwendig, denn auch mit ihrer traditionellen Politik und mit ihren traditionellen Werkzeugen hätten die europäischen Linksparteien einige der negativen Entwicklungen zumindest stark dämpfen können.

Dem Auseinanderklaffen von Einkommen und Vermögen hätte man mit weiteren Steuern und staatlichen Transferleistungen begegnen können. Zusätzliche staatliche Einnahmen wären nicht nur dazu, sondern auch deshalb notwendig, um anderen wachsenden Aufgaben – etwa im Bereich der Bildung und Forschung oder der öffentlichen Infrastruktur – gerecht zu werden. Da und dort wird man bei den bisherigen Ausgaben etwas einsparen können. Aber die Summe des so eingesparten Geldes ist bei weitem nicht ausreichend, um damit die unausweichlich umfangreichere Tätigkeit des Staates zu bezahlen.

In Österreich bestünde durchaus noch Spielraum für eine solche Erhöhung der staatlichen Einnahmen. So könnten die Vermögens-, Erbschafts- und Grundstücksteuern auf das in den meisten anderen europäischen Staaten übliche Niveau angehoben werden. Staatliche Einkünfte ließen sich auch aus der Einführung von "ökologischen Steuern" erschließen (z. B. aus einer Steuer auf die Emission von klimaschädigenden "Treibhausgasen"; bzw. aus einer – überfälligen – Anhebung der Treibstoffsteuern).

Zur deutschen, dem restlichen Europa aufgezwängten Sparpolitik hätte die europäische Linke durchaus Alternativen entwickeln und wohl auch durchsetzen können. Aber auch wenn die europäische Sozialdemokratie diese ihre traditionellen Werkzeuge genützt hätte, hätte sie damit jene großen Trends zwar abschwächen, aber nicht brechen können, welche scheinbar unaufhaltsam Solidarität zersetzen und große Teile der Gesellschaft Abstiegsängsten und Hoffnungslosigkeit ausliefern. Der Wandel der Produktionsbedingungen spaltet die Gesellschaft. Gewinner sind die Allerreichsten und nach ihnen die obere Mittelschicht. Verlierer ist der untere Mittelstand von einfachen Arbeitern und Angestellten. Bei diesem unteren Mittelstand wird bezahlte Arbeit rar. Dort werden die Arbeitsplätze ersatzlos wegrationalisiert.

Ahnungsvolle Mittelschicht

Unternehmer und Kapitalbesitzer müssen ihre Einkünfte also mit immer weniger Arbeitnehmern teilen. Unterschiede in Einkommen und Vermögen werden größer. Mit den traditionellen Werkzeugen könnte selbst eine entschlossene Linksregierung den Anstieg von Arbeitslosigkeit und das Aufklaffen von Einkommensunterschieden also bestenfalls ein wenig bremsen. Wie die vom wirtschaftlichen Abstieg bedrohte Mittelschicht ahnt und fürchtet, würde ihr Schicksal dadurch letztlich nur gemildert und ihr gesellschaftlicher Abstieg nur hinausgezögert. So bleibt diese absteigende untere Mittelschicht der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert und damit jenen politischen Rattenfängern, die ihr vorgaukeln, in die heilere Welt der Vergangenheit zurückkehren zu können, und die sie einladen, ihre Wut und Enttäuschung auf fremde Sündenböcke abzuladen.

Dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft müsste mit wirksameren und völlig neuen Mitteln entgegengewirkt werden. Wenn Lohnarbeit rar wird, dann muss sie eben gerechter und breiter auf alle aufgeteilt werden. Die weiter steigende Produktivität menschlicher Arbeit sollte sich vor allem in einer Verkürzung der Arbeitszeit niederschlagen (und nicht in erster Linie in einer Steigerung der Löhne jener immer wenigeren, die noch Lohnarbeit finden).

Wenn – wie es der Fall ist – eine kleine Gruppe von Kapitalbesitzern sich einen immer größeren Teil vom Kuchen des gemeinsam Erwirtschafteten herausschneiden darf, dann muss man danach trachten, unter der Bedingung einer dynamischen, innovativen und weltoffenen Wirtschaft, die Ansprüche auf das von Unternehmen und Arbeitnehmern gemeinsam Geschaffene neu zu regeln.

Mit einem plötzlichen Bruch, auf revolutionäre Weise, lässt sich eine solche grundsätzliche Änderung der Wirtschaftsverfassung nicht herbeiführen. Das geht nur in kleinen Schritten. Können die europäischen Linksparteien eine solche Vision nicht glaubhaft darstellen, dann werden sie politisch überrollt und aussterben. Wie die historische Erfahrung und die jüngsten Entwicklungen zeigen, würde das durch ihr Hinscheiden geschaffene Vakuum von überaus gefährlichen Kräften gefüllt. (Thomas Nowotny, 6.6.2016)