Traumähnliche Phantasmagorie: Goyas "Das Pferd als Frauenräuber".


Foto: Galerie am Stadtturm

Gmünd – Unter den Vorläufern der Moderne ist der spanische Maler und Grafiker Francisco de Goya einer der wenigen, dessen künstlerisches Erbgut sich noch in der Gegenwart vielfach nachweisen lässt. Die grenzenlose Darstellungslust, die Aufhebung der Übergänge zwischen Realität und Vision sowie eine damals wie heute leider wohlbegründete Einfühlung in die abgrundtiefe "tragédie humaine" haben besonders seinen Radierungen eine fast unglaubliche Aktualität bewahrt.

Die sehr seltene Gelegenheit, einen seiner Grafikzyklen komplett zu bestaunen, bietet sich bis Ende Oktober in Gmünd als große Jahresausstellung in der Galerie im Stadtturm. Außer den 80 Blättern von Goyas legendären Caprichos wartet die Schau mit rund 40 Beispielen der drei weiteren Radierzyklen des Meisters auf, die er, an Welt und Kunstmarkt verzweifelt, schon alle nur mehr für die Schublade angefertigt hat.

Aber einen Moment der Hoffnung gab es. Unter dem Einsatz von Aquatinta, der neuartige Grautöne ermöglichte, zog Goya Anfang 1799, an den Abzugsrändern zahlreiche Fingerabdrücke hinterlassend, jede der 80 Capricho-Radierungen 270-mal ab. In der Zeitung Diario de Madrid gab er bekannt, dass der Zyklus in einem Likör- und Parfumladen der spanischen Hauptstadt zum Verkauf aufliege. Der Hinweis, dass in dem Werk "Gestalten und Gebärden" dargestellt werden, "die bisher nur im Geiste des Menschen existieren, der verdunkelt und verwirrt ist", verfehlte allerdings die geplante verkaufsfördernde Wirkung: Erst 27 Serien waren abgesetzt, als Goya offenbar Wind davon bekam, dass das Geschäft lebensgefährlich wurde.

Die Blätter 23 und 24 prangerten die Entwürdigung der gepeinigten und mit Ketzerhüten gedemütigten Angeklagten des Inquisitionsgerichts allzu deutlich an. Da halfen auch die raffiniert doppeldeutigen Bildtitel nichts. Vermutlich aus Angst vor einer Verfolgung machte der Künstler die verbliebenen 243 Zyklen samt den Druckplatten seinem Gönnerkönig Karl IV. zum Geschenk.

Rabiat gegen vielerlei

Als Porträtmaler von der Gunst des Hofes abhängig, zog Goya in seinen nicht auf Bestellung gearbeiteten Radierungen desto rabiater nicht nur über die Kirche, sondern ebenso die Dekadenz des Adels, die Dünkel der Gelehrten, die Grausamkeit der Soldaten und nicht zuletzt die Dummheit des einfachen Volkes her. Die Freier der Prostituierten werden zu fliegenden Kindmännchen. Ein Realist mit dem Pinsel, der seiner Nackten Maya die ersten Schamhaare der spanischen Kunstgeschichte gemalt hatte, wurde Goya mit dem Stichel in den Caprichos zum Beschwörer albtraumartiger Phantasmagorien.

Das erste, berühmteste Beispiel ist das Capricho Nr. 43 Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Schreckensvisionen entspringen nur scheinbar einer außer Kontrolle geratenden Fantasie. Tatsächlich handelt es sich um exakte Entsprechungen der vom Menschen gestalteten und voller Ängste erlebten Realität. Im obersten Schauraum mit Blättern aus den drei späteren Radierserien Goyas kommt die Lust am Töten als gesellschaftlich tolerierter Schauder ebenso vor wie als Feststellung der Grausamkeit, die er gleichsam als Pionier der Kriegsberichterstattung in den Desastres de la Guerra ab 1808 im Französisch-Spanischen Krieg machte.

Ein künstlerisches Weltzeugnis von unvermindert aufwühlender Kraft. (Michael Cerha, 6.6.2016)