STANDARD: Griechenland geht durch sein siebentes Krisenjahr. Wie düster ist die Lage?

Katrougalos: Die Wirtschaftsleistung ist um 25 Prozent geringer als 2010, jeder Vierte ist arbeitslos, ein Drittel der griechischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Alles, was mit Arbeitnehmerschutz zu tun hat, wurde einfach weggewischt. Wir hatten mehr als 200 Kollektivverträge auf Branchenebene, jetzt haben wir keine zehn mehr. Der gesetzliche Mindestlohn von monatlich 750 Euro wurde 2012 abgeschafft, obwohl alle Parteien dagegen waren. Es wurde uns als wettbewerbsfördernd verkauft. Passiert ist das Gegenteil.

Premierminister Alexis Tsipras will erst wieder Krawatte tragen, wenn die Krise vorbei ist. Für Sozialminister Giorgos Katrougalos ist der Schlips kein rotes (Steck-)Tuch.
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STANDARD: Viele Ökonomen sagen, die griechischen Löhne waren im Vergleich zur Produktivität viel zu hoch.

Katrougalos: Die Lohnhöhe war nie das Problem. Es ist statistisch belegt, dass die Griechen länger arbeiten als die Bewohner jedes anderen EU-Landes. Natürlich müssen wir in vielen Bereichen aufholen. Wir haben die bestgebildete Generation junger Griechen aller Zeiten, aber viele flüchten ins Ausland. Wir brauchen ein neues Wirtschaftsmodell, das alte ist kollabiert. Die Lösung kann aber nicht sein, die Armen und die Mittelklasse weiter zu belasten.

STANDARD: Passiert nicht genau das? Die Umsatzsteuer ist mittlerweile bei 24 Prozent. Sie sind den Forderungen Ihrer Gläubiger ausgeliefert, es gibt scheinbar keine rote Linie.

Katrougalos: Das stimmt nicht. Obwohl wir strikten Beschränkungen unterliegen, basieren unsere Reformen auf unseren Idealen und nicht auf Befehlen von außen. Die gerade beschlossene Pensionsreform ist das beste Beispiel. Wir haben die Pensionsausgaben um ein Prozent verringert, wie mit den Gläubigern vereinbart. Aber anstatt alle Pensionen zu kürzen, haben wir das System gerechter gemacht und die Regeln für alle Versicherten vereinheitlicht.

STANDARD: Ihre Dissertation hat den Titel: "Die Legitimitätskrise der Verwaltung – Der Fall Griechenland". Heute schulden die Griechen dem Staat mehr Steuergeld denn je – 87 Milliarden Euro, ein Europarekord. Scheitert Ihre Regierung daran, die Legitimitätskrise zu bekämpfen?

Katrougalos: Das ist eines unserer größten Probleme. Es ist kurios: Wir lieben unser Land, aber wir hassen den Staat. Hauptsächlich, weil er in der Vergangenheit nicht neutral, sondern klientelistisch war. Es gab eine Allianz zwischen Oligarchen, Politikern, Banken und Medien. Wir versuchen dieses undemokratische System zu brechen. Aber es ist schwierig, in nur einem Jahr die Mentalität zu ändern. Das ist ein langfristiger Prozess.

STANDARD: Es stimmt nicht einmal die Richtung. Unternehmen und Bürger kommen ihrer Steuerschuld immer weniger nach.

Katrougalos: Ein Problem ist, dass sich Vielverdiener sehr leicht ärmer rechnen können. Ein anderes ist die Steuerflucht. Beides bekämpfen wir. Zum Beispiel ist es nun leichter, die Steuererklärung in fragwürdigen Fällen mit den Kontodaten der jeweiligen Person abzugleichen. Es geht bei diesen Maßnahmen nicht nur um die Einnahmen für den Staat, sondern um Gerechtigkeit.

STANDARD: Zuletzt gab es massive Proteste, in Umfragen liegt Syriza bei unter 20 Prozent, halb so viel wie noch im Herbst. Was sagen Sie Wählern, die sich betrogen fühlen, weil die Linke ihre Versprechen nicht hält?

Katrougalos: Die härtesten Maßnahmen der Sparprogramme haben wir im ersten Jahr unserer Regierungsbeteiligung bereits umgesetzt – die Steuerreform und die Pensionsreform. Ihre Früchte sind noch nicht sichtbar. Wir erwarten, dass die griechische Wirtschaft im zweiten Halbjahr wieder wächst, dann wird die Frustration der Menschen zurückgehen.

STANDARD: Und langfristig?

Katrougalos: Vieles hängt von der Entwicklung in Europa ab. Griechenland war Bühne für ein soziales Experiment. Man wollte eine extreme Form des Neoliberalismus, wie in Chile unter Pinochet. Das Experiment ist gescheitert, die Kur war tödlicher als die Krankheit. Jetzt versuchen wir ein neues Experiment, ein soziales.

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STANDARD: Müssen Sie bei Ihrer Kritik an der EU-Finanzpolitik nicht doch zugeben, dass ein Sozialstaat ohne budgetäre Stabilität nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten ist? Griechenland ist das beste Beispiel dafür.

Katrougalos: Natürlich braucht es fiskalische Stabilität. Was den Wohlfahrtsstaat heute gefährdet, ist die hohe Ungleichheit und Steuergeschenke für die Reichen. Wir produzieren ja nicht weniger Wohlstand als früher, sondern mehr. Er kommt nur nicht bei der Mittelschicht und bei den Geringverdienern an.

STANDARD: Wie lässt sich das Syriza-Programm damit vereinbaren, dass sie mit einer rechtspopulistischen Partei wie den Unabhängigen Griechen koaliert?

Katrougalos: Natürlich gibt es große gesellschaftspolitische Differenzen, zum Beispiel wenn es um Rechte von Migranten geht. Aber das entscheidende Thema unserer Zeit ist die wirtschaftliche und soziale Situation. Was uns eint, ist die Ablehnung neoliberaler Politik.

STANDARD: Seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen der EU und der Türkei kommen deutlich weniger Flüchtlinge in Griechenland an. Ist Europa auf dem richtigen Weg?

Katrougalos: Letzte Woche sind wieder 800 Menschen im Mittelmeer ertrunken, wie könnten wir da von einem guten Weg sprechen? Das Abkommen mit der Türkei ist nicht verlässlich. Es gibt keine nationalen Antworten auf diese Krise. Wir können sie nur mit Solidarität hinter uns lassen. Es ist erschreckend, dass die vereinbarte Verteilung der Flüchtlinge in der EU nur wegen der Weigerung einiger Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt wird. Man kann nicht die ganze Last den Ländern an den Toren Europas umhängen. (Simon Moser, 5.6.2016)