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Ein Fußballfest im Ausnahmezustand – die Terrorgefahr und sozialpolitische Auseinandersetzungen drängen den Sport eine Woche vor Anpfiff in den Hintergrund.

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Vorbildliche Équipe 1998 (v. li.): Guivarc'h, Blanc, Thuram, Desailly, Petit, Zidane; Henry, Djorkaeff, Deschamps, Lizarazu und Barthez.

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Feiern können die Franzosen: Man erinnert sich an die Jubelszenen von 1998, als Zinédine Zidane die Bleus im Stade de France zum WM-Triumph über Brasilien führte. Die Champs-Elysées mit ihrem Prachtdekor zwischen Triumphbogen und Concorde-Platz erzitterten unter der aus hunderttausend Kehlen angestimmten Marseillaise.

18 Jahre später kehrt der Fußballtross wieder nach Frankreich zurück. Die Stadien werden mit 2,5 Millionen Zuschauern gefüllt sein, die Fanmeilen sind sogar für noch mehr Besucher, als das Stade de France fasst, konzipiert – alleine 100.000 sollen es auf dem Marsfeld beim Eiffelturm sein.

Und doch ist es fraglich, ob der Funke zünden wird. Es ist unsicher, ob die Franzosen tun werden, was sie so gut beherrschen. Das Problem ist nicht so sehr spieltechnischer Natur. Wie Marcel Desailly sagt, ein Idol der WM 1998, hätten die bei europäischen Spitzenklubs spielenden französischen Stars durchaus das Zeug zum Titel.

Die Verfassung Frankreichs

Das Problem liegt eher im Umfeld, in der schlechten Verfassung Frankreichs im Allgemeinen. Das Land, seit Jahren immer wieder Ziel mörderischer Terroranschläge – Toulouse 2012, "Charlie Hebdo" 2015, Bataclan und Stade de France Ende 2015 –, befindet sich verfassungsrechtlich immer noch im Ausnahmezustand. Militärpatrouillen prägen das Straßenbild, nicht nur die Stadien mutieren zu Hochsicherheitstrakten.

Sicher ist, dass Frankreich nicht nur unter dem Damoklesschwert des Terrors leidet. Sozialpolitisch brodelt es mit Streiks, Bahnblockaden und Tankstellensperren. Und das ist nur die sichtbare Seite des Übels: Die Arbeitslosigkeit, für fünf Millionen Franzosen und ihre Familien ein Drama, verharrt bei mehr als zehn Prozent – ein Rekordniveau. Nicht von ungefähr ist der Front National, dieser Affront gegen die Werte der Republik, die stärkste Partei. Und Marine Le Pen will im Mai 2017 in den Élysée-Palast einziehen. Für die Nation, allen voran ihren Präsidenten, kommt das Fußballfest gerade recht. Wahlmonarch François Hollande will seinen Untertanen Baguette und Spiele geben, also etwas Freude und Hoffnung in trüben Zeiten der umfassenden Dauerkrise.

Anknüpfen

Die Franzosen wären glücklich, könnten die neuen Bleus an die alten Zeiten anknüpfen, wenn sie an diese Nationalelf glauben könnten. Doch das Aufgebot von Didier Deschamps weckt zumindest im Vorfeld des Turniers viel Skepsis. Diese Blauen machen nicht träumen, sie bieten selbst nur ein Spiegelbild des Landes, dessen Farben sie tragen. "Es ist doch unglaublich, all diese Individualisten zu sehen – das sind alle Spieler von Weltklasse", sagt Desailly, artikuliert dann aber seinen Zweifel: "Man wird sehen, ob sie zu einer Geschlossenheit finden."

Geschlossenheit, Kollektiv: Das sind für die individualistischen Franzosen mehr denn je Fremdworte – auf dem Feld und andernorts. In aktuellen Streiks und Protesten gegen die Arbeitsreform verteidigt jeder sein eigenes "bifteck", sein kleines Privileg. So funktionierte das schon im Ancien Régime der Monarchie, so ging es mit den Sozialrechten nach der Revolution von 1789: Der Aristokrat kämpft wie der Citoyen für seinen Besitzstand, nicht für das Allgemeinwohl.

Wie auf dem Pausenhof

Ähnlich verhält es sich mit den Spielern der Nationalelf. Coach Deschamps weiß sich nur noch zu helfen, indem er auf mehrere Stützen verzichtet. Karim Benzema bleibt draußen, weil er in die Erpressungsaffäre gegen den Mitspieler Mathieu Valbuena verwickelt war, und Franck Ribéry, weil er früher andere Nationalspieler gemobbt hatte. Sowohl Benzema, der Deschamps nun indirekt Rassismus unterstellt, als auch Ribéry hätten sich wie "Rädelsführer auf dem Pausenhof" aufgeführt, sagte ein Kommentator der Zeitschrift "L'Obs". Sogar die Zeitung "Le Monde", die wirklich nicht des Boulevardjournalismus oder gar Rassismus verdächtigt werden kann, schrieb bereits bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika: "In der Équipe de France gibt es Clans – die Schwarzen von den Antillen, die Schwarzen aus Afrika, die Weißen, die Muslime, die Legionäre und die, die in Frankreich geblieben sind."

Diese Gruppen, das sind auf Landesebene genau jene wirtschaftspolitischen Korps und Berufszweige, die ihre eigenen Interessen vertreten und alle Reformversuche der Regierung aus Prinzip bekämpfen.

Die Nation schaut hin

In Deschamps Équipe verhindern sie das Aufkommen eines Gemeinschaftsgefühls. Allerdings könnte ein günstiger Turnierverlauf viel bewirken. So wie 1998. Herkunft und Hautfarbe spielten da keine Rolle mehr, Frankreich feierte die rot-weiß-blauen Weltmeister auch, weil sie die soziologischen Landesfarben schwarz-weiß-braun verkörperten. Zwei Jahre später holte sich Frankreich noch die EM. Dann ging es bergab. Der Tiefpunkt war 2010 in Südafrika der Spieleraufstand gegen Trainer Raymond Domenech. Davon erholte sich die Elf unter Deschamps nur langsam. 2014 in Brasilien schied sie im Viertelfinale gegen Deutschland ehrenvoll aus.

Jetzt sind die Erwartungen höher. Die Nation wird genau hinschauen, ob sich die Spieler wieder Solotouren leisten. Ohne Ribéry und Benzema könnte sich das Kollektivgefühl leichter entfalten. Das wäre nicht nur für den Turnierverlauf wichtig. Es wäre das Zeichen, dass der "kranke Mann Europas", wie Frankreich vielenorts genannt wird, aus dem Tal der Tränen steigt und tut, was er/es kann: Feste feiern. (Stefan Brändle, 3.6.2016)