Großfamilien auf wenigen Quadratmetern: Die Notstandssiedlung in Wien-Ottakring bot den dort Wohnenden nur das Nötigste – bewahrte viele aber vor der Obdachlosigkeit.

Foto: Bezirksmuseum Ottakring

Wien – Familien mit zehn oder mehr Kindern auf 26 Quadratmetern Wohnraum, verteilt auf Küche und Kabinett: So wurde in der 1911 errichteten Notstandssiedlung in der Wiener Gablenzgasse gehaust. Die Siedlung bot bis zu ihrem Abriss im Jahr 1954 mehreren hundert Familien ein Dach über dem Kopf. Viele der Bewohner waren arbeitslos. Unzählige Kinder, keine Arbeit – unter diesen Voraussetzungen eine fixe Bleibe zu haben war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien alles andere als selbstverständlich. Die Not in weiten Teilen der Vorstadt war groß, sozialer Wohnbau noch Zukunftsmusik.

Aus allen Teilen des damaligen Kaiserreichs strömten nicht oder nur schlecht qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter in die Hauptstadt, mit fast 2,1 Millionen Menschen war Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die siebentgrößte Stadt der Welt. Die Folgen von rasantem Zuzug, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und fehlender sozialer Absicherung waren nicht zu übersehen.

Weil in der Monarchie nur rudimentärste Sozialhilfe existierte, übernahmen private Initiativen und Verbände die Aufgabe, hier lenkend einzugreifen. Zweien davon ist nun eine Ausstellung im Bezirksmuseum Ottakring gewidmet, die von 3. Juni bis 25. September zu sehen ist.

"Wir wollen anhand dieser Institutionen erzählen, wie sich der städtische Raum verändert hat", sagt die Wiener Historikerin Heidi Niederkofler. Sie hat gemeinsam mit der Politikwissenschafterin Elke Rajal die Schau kuratiert. Gemeinsam forschten sie nicht nur zur Notstandssiedlung in der Gablenzgasse, sondern auch zum sogenannten Wiener Settlement.

Hilfe und bürgerliche Werte

Dieser privat organisierte Verein wurde 1901 von bürgerlichen Frauen gegründet, viele von ihnen in der Frauenbewegung aktiv. Die Nationalsozialisten lösten das Settlement auf, 1945 wurde es wiedergegründet, bis 2003 bestand es in abgespeckter Form. Die Idee der Einrichtung war, direkt dort zu helfen, wo Not herrschte: "Es ging um Arbeit mit den Leuten vor Ort", sagt Niederkofler. Deshalb zogen die Settlement-Frauen teilweise selbst in die Vorstadt, lebten inmitten der Armen.

"Ziel war vor allem, die Leute aufzufangen und zur Selbsthilfe anzuregen." Man wollte den Armutsbetroffenen bestimmte Werte vermitteln, Kultur und Bildung. Das geschah in Form von praktischer Unterstützung und niederschwelliger Bildung – etwa in Form von Kinderbetreuung, Ausspeisung, Erziehungsberatung oder Theaterabenden. "Es ging beim Settlement um beides", sagt Niederkofler, "um praktische Hilfe und um die Vermittlung bürgerlicher Werte." Denn mit Armut und Wohnungsnot ging vielfach auch die Angst vor moralischem Verfall einher. Die private Wohlfahrt, wie sie das Settlement leistete, war Antwort auch darauf.

Die Ausstellung in Ottakring zeichnet nun die Entstehungsgeschichte und das Bestehen der Notstandssiedlung und des Settlements nach, zeigt zahlreiche Fotos und Bilddokumente aus jener Zeit. Grundlage boten Archivrecherchen und Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Warum gerade diese beiden Projekte in einer Forschungsarbeit? "Beide waren Interventionen gegen Armut und Wohnungsnot zur selben Zeit", sagt Elke Rajal. Doch während Wien mit der Errichtung der Notstandssiedlung auf die grassierende Wohnungsnot reagierte, sei es dem Settlement eben zentral darum gegangen, bürgerliche Werte zu vermitteln. "Insofern kann man dessen Arbeit auch als Disziplinierungsmaßnahme sehen", so Rajal. Die Frage lautete: Wie sind all die Menschen, die in die Stadt kommen, integrierbar – räumlich wie sozial?

Almosen statt Rechte

Staatliche Wohlfahrt inklusive verbriefter sozialer Rechte für alle Menschen und sozialen Wohnbaus machte sich erst das "Rote Wien" ab 1918 zur staatlichen Aufgabe. Dass es der Monarchie zuvor eher darum gegangen war, die arme Bevölkerung "auf Abstand" zu halten, zeigt ihr eigener Umgang mit der Ottakringer Notstandssiedlung: "In einem Gemeinderatsbeschluss von 1911 legte die Stadt fest, dass ihr aus dem Projekt keine weiteren Verpflichtungen zum Ausbau des sozialen Wohnbaus in Wien entstehen", erzählt Elke Rajal.

Die Recherche zum Projekt absolvierten Rajal und Niederkofler im Rahmen des vom Wissenschaftsministerium finanzierten Sparkling-Science-Projektes "Melting Pot!? Perspektiven auf sozialräumliche Umstrukturierungsprozesse in Ottakring". Wie immer bei Sparkling Science waren auch an diesem Projekt Schülerinnen und Schüler beteiligt, diesmal aus dem Realgymnasium Maroltingergasse in Ottakring. Die Projektleitung lag beim Kreisky-Archiv, die Sammlung Frauennachlässe, die den Nachlass des Vereins Wiener Settlement bewahrt, und das Bezirksmuseum Ottakring waren Kooperationspartner. (Lisa Mayr, 2.6.2016)