Während die nach zwei Jahren Haft im Austausch für zwei in der Ukraine inhaftierte russische Soldaten freigekommene Pilotin Nadija Sawtschenko als Nationalheldin am Kiewer Flughafen empfangen wurde, gerieten OSZE-Beobachter in der umkämpften Ostukraine unter Beschuss. Fünfzehn Monate nach den Minsker Vereinbarungen wird immer wieder von beiden Seiten weiter geschossen, wenn auch auf allen Ebenen mehr denn je über die schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen Russland geredet wird.

Die Ereignisse bestätigen die vorsichtige und zugleich feste Haltung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die sich nach dem Gipfeltreffen der sieben wichtigsten Industrieländer gegen die Lockerung der Sanktionen ausgesprochen hat: "Es gibt zwar keine massiven Kampfhandlungen, aber es gibt auch keinen stabilen Waffenstillstand." Man sei bei der Ausarbeitung eines Wahlgesetzes und der Abhaltung der Lokalwahlen immer noch nicht weitergekommen.

Am 31. Juli laufen die Sanktionen aus, und auf dem nächsten EU-Gipfel muss eine Entscheidung fallen. Zwei Faktoren begünstigen die Position Russlands. In Deutschland sind die Sanktionen nicht nur in den Kreisen der Ostexporteure, sondern auch bei den Sozialdemokraten unpopulär. Deshalb versucht der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Gratwanderung zwischen den extremen Positionen in der EU und der Nato. Während Polen und die baltischen Staaten, die sich bedroht fühlen, einen scharfen Kurs auf dem Nato-Gipfel im Juli in Polen fordern, neigen Griechenland, Ungarn und Italien zu Sanktionserleichterungen. Die Tatsache, dass starke rechtspopulistische Parteien in Frankreich und Österreich, vom Kreml nicht nur mit Worten hofiert, lautstark gegen die Sanktionen auftreten, trägt zur Vertiefung der Spaltungstendenzen in der EU bei.

Noch wichtiger ist der zweite Faktor, der die Abwehrkraft der Ukraine schwächt und den russischen "Destabilisationskrieg" auf Sparflamme begünstigt. Die politische und wirtschaftliche, nicht nur militärische Zukunft dieses großen Landes mit 45 Millionen Menschen wird in erster Linie von innen bedroht. Bereits die Orange Revolution von 2003 bis 2004 scheiterte wegen des Machtkampfes um Pfründen zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko. Nur deshalb gelang dem prorussischen (und zutiefst korrupten) Präsidenten Janukowitsch die Rückkehr an die Macht.

Die proeuropäische "Revolution der Würde" vom Maidan 2013-2014 sollte einen neuen Anfang im Kampf gegen Korruption und für eine neue politische Kul-tur in einer demokratischen Ukraine bedeuten. Der mit großen Vorschusslorbeeren gewählte Präsident Pjotr Poroschenko habe viel versprochen, aber wenig gehalten, sagt Mustafa Nayyem, ein Abgeordneter aus seinem Wahlblock. Es wird zuweilen vergessen, dass Poroschenko selbst, mit einem geschätzten Vermögen von 1,5 Mrd. Euro, einer jener Oligarchen ist, die das Land beherrschen Er hat trotz Wahlversprechungen sein Schokoladeimperium bisher nicht verkauft. Die Regierungsprogramme gegen Korruption und Vetternwirtschaft waren bisher nicht das Papier wert, auf dem sie standen. (Paul Lendvai, 30.5.2016)