STANDARD: Als wir im Lokal ankamen, wollten Sie Ihr Fahrrad partout nicht aus dem Gastgarten entfernen, wie es der Kellner verlangte. Ich dachte schon, wir müssen gehen. Sind Sie immer so widerständig?

Adelmo Cervi: In Österreich benehme ich mich besser. Würde ich hier leben, wäre ich vielleicht bald im Gefängnis. Es gibt Regeln, die mir gefallen. Aber auch welche, die mir nicht gefallen. Das zeige ich dann auch (lacht).

STANDARD: Welche gefallen Ihnen nicht?

Cervi: Einfach nur gehorchen, ohne dass einem etwas erklärt wird, das mag ich nicht.

STANDARD: Das verstehe ich. Kommen wir zu Ihrer Familie: Sie ist eine Legende des Widerstands in Italien. Wie hat Sie das geprägt?

Adelmo Cervi hat sich seiner harten Familiengeschichte neu genähert und erzählt in einem berührenden Buch darüber – auch die Rolle der Frauen kommt nicht zu kurz.
Foto: Andy Urban

Cervi: Mir ist es immer sehr schlecht gegangen mit den Heldengeschichten. Mir hat mein Vater gefehlt. Ich war vier Monate alt, als er hingerichtet wurde. Und mir hat auch die Mutter gefehlt. Denn die Frauen am Hof haben nach dem Tod der sieben Brüder den Hof weiterbetrieben und waren von früh bis spät auf dem Feld oder im Stall. Ich hatte als Kind niemanden, der mit mir kuschelte oder mir Geschichten vorlas. Mit elf musste ich die Schule beenden und auch am Hof arbeiten. Die Familie musste sich entscheiden: entweder den Hof verlassen, den der Grundeigentümer verkaufen wollte, oder ihn unter enormen Anstrengungen und mit Kredit kaufen. Meine Mutter und drei Tanten entschieden, ihn zu kaufen.

STANDARD: Der Hof, die Casa Cervi, ist heute ein Museum. Wollten Sie je ganz weg?

Cervi: Es gab Momente der Wut, sogar Hass auf das Haus. Es gab auch schöne Erinnerungen an das Aufwachsen mit den Cousins. Ich habe mich wieder angenähert. Es war klar, dass ich Teil der Geschichte bin.

STANDARD: Auf wen waren Sie wütend?

Cervi: Da kamen immer wieder so Scheißbürokraten von der Kommunistischen Partei. Die wollten sich mit Großvater Alcide zeigen, weil das für ihre Karriere in Richtung Parlament nützlich war. Die wollten immer nur den Vater der berühmten Cervi-Brüder. Aber wir Kinder interessierten sie überhaupt nicht. Ich kam aus dem Stall, hatte überall Mist kleben, und keiner dieser Funktionäre hat mit mir geredet.

STANDARD: Sie wurden ja auch Kommunist ...

Cervi: Daran ist mein Vater schuld. Bevor ich auf die Welt kam, war ich das schon. Ich war so klein (zeigt lachend mit Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter), da war ich schon Kommunist.

STANDARD: War der Widerspruch zwischen Kindheit und Mythos Grund für Ihr Buch?

Cervi: Ja. Es geht im Buch eben nicht um Helden, sondern um eine Familie von Kämpfern und Kämpferinnen. Es war wichtig für mich zu verstehen, dass mein Vater alles getan hat, weil er eine gerechtere Welt wollte. Weil er diese beschissene Situation unter dem Faschismus bekämpfen musste.

STANDARD: Wie wurde aus dem katholischen Bauern der Emilia-Romagna ein Kommunist?

Die Cervi-Familie vor dem Trauma der Hinrichtung: Die Großeltern von Adelmo, Alcide und Genoeffa, mit allen sieben Söhnen. Der Jüngste wurde nur 22, der Älteste 42.
Foto: Casa Cervi

Cervi: Es gab nicht nur den politischen Kampf in der Familie. Schon die Art, wie sie Landwirtschaft betrieb, war ein Akt des Widerstandes. Sie wollten mehr Ertrag durch Modernisierung. Nicht nur, damit es ihnen besser ging, sondern um anderen helfen zu können. Ziel war die Gesellschaft ohne Armut. Der Mythos sagt: Ein normaler Mensch kann nicht solche Opfer bringen. Mir ist wichtig, dass man das umgekehrt sieht. Sie haben in einer normalen Situation Widerstand geleistet. Es gibt keinen König, keinen Gott und auch keine Helden.

STANDARD: Ihr Vater kam während seines Militärdienstes ins Gefängnis. Dort hat er gelesen und sich gebildet. War das sein Wendepunkt?

Cervi: Er musste beim Militär ein Munitionslager bewachen. Als ein Offizier sich näherte und nicht das ausgemachte Losungswort sagte, ließ ihn mein Vater nicht weitergehen. Deshalb sperrte man ihn ein. Mein Vater war zwölf, als der Faschismus an die Macht kam. Für die Arbeiter war es schon schwierig, aber für die Bauern auf dem Land fast unmöglich, die politische Entwicklung zu verstehen. Sie waren weit weg von Informationen. Der Wendepunkt kam im Gefängnis. Aber in gewissem Sinn war die Familie immer antifaschistisch. Sie waren Christdemokraten. Mein Großvater gab seine Kinder nie in faschistische Jugendorganisationen. Vor dem Militär war mein Vater Ortsvorsitzender der katholischen Jugend und sehr involviert in das kirchliche Leben im Ort. Das Evangelium war wichtig in der Familie. Mein Großvater wollte nie, dass schlecht über die Religion gesprochen wird. Jesus Christus war für ihn der erste Marxist auf Erden. Die Zehn Gebote sind auch für mich ein Teil meines Marxismus.

STANDARD: An Gott glauben Sie aber nicht?

Cervi: Die menschliche Würde, Hungrigen zu essen geben, den Nackten Kleidung, Solidarität, das war ganz wichtig in meiner Familie. Für mich ist Religion trotzdem auch eine Verarschung. Die, die Jesus Christus gekreuzigt haben, erhoben ihn zum Mythos und sprechen jetzt in seinem Namen.

STANDARD: Ihre Familie hat auch Fluchthilfe geleistet. Erinnert Sie das an heute?

Cervi: Ich war immer auf der Seite der Ausgebeuteten, der Schwächsten. Flüchtlingshilfe ist Pflicht. Aber es braucht ein breiteres Konzept als Almosen. Es gibt Aktivisten, die sich voll auf Flüchtlingshilfe konzentrieren, aber nie auf die Idee kämen, einem armen, wohnungslosen Italiener zu helfen.

STANDARD: Ihre Großmutter, Genoeffa, hat sieben Kinder an einem Tag verloren, eine größere Katastrophe ist nicht vorstellbar.

Cervi: Nicht nur das. Mein Großvater war zum Zeitpunkt der Hinrichtung selbst im Gefängnis und wusste nicht, dass die Söhne tot waren. Als er heimkam, brachte meine Großmutter auch noch die Kraft auf, ihm das eine Zeitlang zu verschweigen, weil er krank war. Aber die Faschisten kamen immer wieder, zündeten wiederholt den Hof an. Nach ein paar Monaten starb Oma an gebrochenem Herzen. Die Kanaille des Faschismus hat auch sie auf dem Gewissen.

STANDARD: Die Geschichte der Partisanen wird oft sehr männlich erzählt. Was war der Beitrag der Frauen zum Widerstand?

Nach dem Krieg: Nur Großvater Alcide, die Witwen, Schwestern und Alcides 11 Enkelkinder haben überlebt. Der kleine Bub links auf dem Schoß ist Adelmo Cervi. Dieser sagt über das Bild: Das Haus sei wie ein Schiff gewesen, das im Sturm die halbe Besatzung verloren hatte. "In diesen Gesichtern scheint keine Sonne, ihren Augen fehlt jede Heiterkeit."
Foto: Casa Cervi

Cervi: Diese Frage ist mir auch sehr wichtig und kommt auch im Buch sehr prominent vor. Für mich waren die Frauen der Familie sogar stärker als die Männer. In der italienischen Erinnerungsarbeit ist der Partisan mit der Waffe in der Hand zentral. Aber das war eine 20-jährige Periode von Widerstand gegen Mussolini und Hitler, die viele Formen hatte. Die Cervi-Frauen leisteten Fluchthilfe, versteckten dutzende Leute, manche kamen verletzt, mussten gepflegt werden, sie haben ihnen Kleidung genäht, Essen gegeben, alles Organisatorische machten die Frauen. Vor allem ab 1943, als die Besatzung durch die Deutschen begann, hat diese illegale Tätigkeit ein großes Ausmaß erreicht. Die Casa Cervi war der erste Hof, wo so viele Antifaschisten, Kriegsflüchtlinge, Deserteure und aus dem KZ Geflohene versteckt wurden. Außerdem mussten die Frauen, als die Männer zu den Partisanen in die Berge gingen, auch noch die ganz normale Arbeit am Hof weitermachen.

STANDARD: War Angst je ein Thema?

Cervi: Meine Eltern waren nicht verheiratet, was untypisch war. Meine Mutter sagte einmal zu meinem Vater: Du weißt schon, wenn du umgebracht wirst, stehe ich mit zwei Kindern da und kriege keine Pension. Er sagte: Schau nicht auf das Schlimme von heute, sondern in die Zukunft. Wir werden eine Gesellschaft erkämpfen, wo auch du, auch wenn ich tot bin, eine Pension kriegst.

STANDARD: Wie fände er heute unsere Welt?

Cervi (kämpft mit den Tränen, schweigt eine Minute): Er wäre noch verärgerter als ich. Die Welt ist unmenschlich. Das Böse dominiert. Es schmerzt Leute mehr, wenn ihr Auto kaputt ist, als wenn es einem Menschen schlecht geht. Man kann als Katholik oder Kommunist ein guter Mensch sein. Aber man braucht eine größere Idee, um den Kampf durchzustehen. Die Flamme der Hoffnung gibt es noch. (Colette M. Schmidt, 29.5.2016)