Ein bestrickender Stilmix aus Gebärdensprache und postmodernen Accessoires: Im Bild lichten einander Angehörige der Militärgarnison mit dem Dienstmädchen Anfissa (Elena Drinewskaja) ab. Tschechows "Drei Schwestern" verweisen plötzlich auf mehr als ein Jahrhundert Geschichte.

Foto: Frol Podlesny

Wien – Grau sind die Wohnverhältnisse im Hause Prosorow. Ein Zimmerchen grenzt gut einsehbar an das nächste. Die unsichtbaren Wände sind am Fußboden mit Abklebern markiert, die Wohnwaben vollgeräumt mit einheitsgrau lackiertem Plunder. Die Wiener Festwochen haben Anton Tschechows trostlos-schönes Drama Drei Schwestern aus Nowosibirsk importiert. Und weil buchstäblich alles gesagt zu sein scheint, hat Regisseur Timofej Kuljabin seine Schauspieler – mit einer bezeichnenden Ausnahme – zu äußerstem Stillschweigen verpflichtet.

Der Rest ist Schweigen

Man unterhält sich einzig und allein unter Zuhilfenahme von Gebärden. Der Rest ist Schweigen in der Halle G des Museumsquartiers. Ins Ohr schmiegt sich wie zum Ersatz ein schier unerschöpfliches Weben. Ein Klappern von Tellern, ein Hämmern auf Nägel, eine tröstliche Alltagsmusik, erzeugt von den prosaischsten Gegenständen.

Die Darsteller des Teatr Krasnyi Fackel bleiben die uns wohlvertrauten Erscheinungen. Irina (Linda Achmetsjanowa), die Jüngste, feiert ihren Namenstag und freut sich tapfer über die vielen sinnlosen Geschenke. Der alte Garnisonsarzt (Andrej Tschernych) verfällt bei jeder Anwandlung von Gelächter in eine gefährliche Schnappatmung. Weil Olga, Mascha und Irina festsitzen in ihrer ungeliebten Kreisstadt wie Fliegen im Glas, müssen sie andere Türen aufstoßen in die weite, unerforschliche Welt irgendwo da draußen. "Nach Moskau!", die wohlbekannte Chiffre für ein tätig zugebrachtes Leben, führt hinaus ins Netz.

Einerseits sitzen die Figuren also fest in den Gewohnheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ein (deutlich verjüngtes) Dienstmädchen deckt die Tafel und verwöhnt mit Cognac und Kuchen. Über die Schirme von Smartphones und iPads flimmert aber bereits Miley Cyrus. Mag sein, die goldige Irina schwänge am liebsten splitternackt auf einer Eisenkugel in das unerreichbar ferne Moskau.

Beim unhörbaren Wort genommen

Aus solchen beziehungsvollen Widersprüchen bezieht der viereinhalbstündige Abend Unmengen an Kraft. Er nimmt die Figuren beim Wort, auch wenn er dieses akustisch unterdrückt.

Offengelegt wird das soziale Getriebe. Und so blickt man staunend auf Bruder Andrej (Ilja Musyko), der sich, wann immer er sich unbeobachtet wähnt, in das Saitenspiel auf seiner Violine vertieft. Da ist Mascha (Darja Jemeljanowa), die mittlere Schwester, eine hoheitsvolle, zugleich tragische Erscheinung im blauen Salonkleid. Die Betriebsamkeit ihrer Mitmenschen erstickt sie mit Trillerpfiffen. Ihr an den törichten Schullehrer Kulygin verpfändetes Herz soll Werschinin gehören, dem im Selbstmitleid badenden Obersten einer sich tödlich langweilenden Garnison.

Für sie und ihresgleichen gibt es leider kein Durchkommen in dieser Wohngemeinschaft der Gehörlosen. Das Szepter der Herrschaft hat Natascha (Claudia Kachussowa) übernommen, Andrejs von allen verachtete Frau. Sie ist die Sendbotin einer neuen, putinistischen Zeit. Sie lackiert sich hingebungsvoll die Zehennägel oder deodoriert sich für das Schäferstündchen mit dem Kreisvorsitzenden. Sie alle leben auf engstem Raum miteinander. Und doch ziehen sie aneinander vorüber wie auf fernen Planetenbahnen.

Foto mit Selfiestick

Und so kommt es, dass ehrwürdige Soldaten des Zarenreichs ihre Gruppenfotos unter Zuhilfenahme eines Selfiesticks schießen. Im vierten Akt fallen auch noch die letzten unsichtbaren Wände. Der Hausrat ruht zusammengeschoben unter einer Klarsichtfolie. Das Regiment rückt ab, die Schwestern bleiben zurück.

Irinas Verlobter ist durch eine Pistolenkugel gefallen, Mascha wurde soeben mit letzter Not, das heißt handgreiflich, am Ehebruch gehindert. Vom Band läuft dröhnend ein Militärmarsch, die Musik eiert. Die Schwestern aber versichern einander mit zuckenden Händen und stampfenden Füßen, wie optimistisch sie nicht seien: "nur leben, nur arbeiten", wie das Schriftband mit den deutschen Untertiteln aufmunternd sagt. Es ist die geniale Entladung einer denkwürdigen Produktion. Jubel. (Ronald Pohl, 29.5.2016)