Bordeaux/Wien – Immer neue Details über die Neandertaler bringen ans Licht, wie falsch das lange Zeit vorherrschende Bild vom primitiven, unkultivierten Grobian war. Über welche erstaunlichen Fähigkeiten unsere ausgestorbenen nächsten Verwandten verfügt haben müssen, zeigt nun einmal mehr eine Studie im Fachblatt "Nature".

Ein internationales Forscherteam um Jacques Jaubert (Universität Bordeaux) berichtet von mindestens 175.000 Jahre alten Bauwerken tief in einer Höhle im Südwesten Frankreichs, die wohl nur Homo neanderthalensis errichtet haben kann. Denn zu dieser Zeit existierte nach heutigem Kenntnisstand keine andere Homo-Spezies in der Region.

Foto: Michel SOULIER – SSAC / Nature Jaubert et al.

So rätselhaft der Zweck dieser aus Tropfstein gefertigten Strukturen gegenwärtig auch ist, so sensationell sind jetzt schon die Implikationen des Fundes: Nicht nur müssen die Konstruktionen zu den ältesten und besterhaltenen frühmenschlichen Bauwerken der Welt gerechnet werden. Allein Lage und Beschaffenheit der mysteriösen Tropfsteingebilde attestieren den Baumeistern eine komplexe soziale Handlungsfähigkeit.

Höhlenforscher hatten die Tropfsteinhöhle in der französischen Gemeinde Bruniquel bereits 1990 entdeckt und festgestellt, dass sie tief im Inneren unnatürliche Strukturen beherbergt. Erste Datierungsversuche mittels Radiokarbonmethode brachten jedoch keine brauchbaren Ergebnisse, da man schnell an die Nachweisgrenze des Verfahrens stieß.

Neuer Anlauf

Erst im Jahr 2013 startete ein Team um Jaubert ein umfangreiches Projekt zur genauen Untersuchung und Datierung der Anlage, dessen Ergebnisse nun vorliegen. Die Funde bestehen aus zwei großen Halbkreisen und insgesamt vier Stapelstrukturen, alle sind aus abgebrochenen Stalagmiten gebaut, also aus vom Boden gewachsenem Tropfstein.

Foto: Etienne FABRE – SSAC

Die Stapel sind in bis zu vier Lagen aufgeschichtet, mit seitlichen Stützen versehen und 2,6 Meter breit, die Halbkreise sind rund 40 Zentimeter hoch. Insgesamt beläuft sich das Baumaterial auf knapp 400 Stalagmiten, die zusammen auf eine Länge von 112 Metern und ein Gewicht von 2,2 Tonnen kommen. Das Alter beträgt laut Uran-Thorium-Datierung, die auf dem radioaktiven Zerfall von Uranisotopen basiert und Proben viel weiter zurückdatieren lässt als die Radiokarbonmethode, 174.400 bis 178.600 Jahre.

Feuer unter Tage

Ein verbrannter Knochen, der ebenfalls entdeckt wurde, bestätigt die Datierung. Brandspuren wurden aber auch auf Stalagmiten gefunden und Analysen sprechen dafür, dass es an Ort und Stelle Feuer gegeben haben muss.

3-D-Rekonstruktion der Tropfsteinstrukturen.
Foto: Xavier MUTH / Archéotransfert, Archéovision – SHS-3D / Pascal Mora

Welchen Zweck die Tropfsteinstrukturen erfüllt haben, ist noch völlig unklar. Knochen von Neandertalern, Werkzeuge oder andere Anhaltspunkte für eine Nutzung als Wohnort, Begräbnisplatz oder Ritualstätte fehlen gänzlich. Einzig natürliche Entstehungsursachen könne man ausschließen. "Es ist ein großes Rätsel", sagte Koautor Dominique Genty.

Das nachweisbare Feuer muss jedenfalls auch der Beleuchtung gedient haben: Denn die Baustelle liegt erstaunlicherweise gut 300 Meter vom Eingang der Höhle entfernt – und damit weit weg von jeder natürlichen Lichtquelle. (David Rennert, 26.5.2016)