Von einem "Nachtwächterstaat" kann keine Rede sein: Die öffentliche Hand greift in Österreich kräftig zu. Steuer- und Sozialabgaben machen 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, ein Wert deutlich über dem EU-Schnitt – viel Masse also für Umverteilung.

Doch wie viel Geld schiebt der Staat tatsächlich von Reich zu Arm? Wie stark verändern sich dadurch die Einkommen der Menschen? Im Auftrag des Sozialministeriums haben Expertinnen und Experten aus dem Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) das Ausmaß der Umverteilung in Österreich untersucht.

Eine zentrales Ergebnis: Die Herausforderung, für Ausgleich zu sorgen, wird für den Sozialstaat immer größer, denn die Kluft zwischen Gut- und Schlechtverdienern wächst in Österreich kontinuierlich. Betrug das durchschnittlichen Einkommen aus Löhnen und Pensionen der oberen zehn Prozent der Haushalte im Jahr 2000 noch das 10,8-Fache des Verdiensts der unteren zehn Prozent, so war es zehn Jahre danach bereits das 23,6-Fache. Den großen Sprung setzte es in der zweiten Hälfte der Dekade als Folge der Wirtschaftskrise, sagt Alois Guger, einer der Studienautoren: Die gestiegene Arbeitslosigkeit habe die unteren Einkommen ebenso gedämpft wie die vielen atypischen und schlecht entlohnten Jobs, während die Bezüge am oberen Ende der Gesellschaft stiegen.

Für die jüngere Vergangenheit – die Studie basiert aus statistischen Gründen auf Daten von 2010 – konnten die Autoren erstmals nicht nur Löhne und Pensionen, sondern auch Einkommen von Selbstständigen und aus Vermögen einberechnen. Demnach kommt das oberste Zehntel der Haushalte auf 34 Prozent des auf dem Markt erzielten Einkommens, während die unteren zehn Prozent über nur 0,6 Prozent verfügen. Oder, anders gerechnet: Das obere Drittel verbucht 67,8 Prozent des gesamten Einkommens, das untere 7,4 Prozent.

Rechnet man die Pensionen ein, ist die Kluft etwas geringer: Das bestsituierte Zehntel kommt dann auf 28,3 Prozent, das obere Drittel auf 60,2 Prozent. Am ungleichsten verteilt sind die Einkommen aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Zinsen und Dividenden, die zu 62,5 beziehungsweise 71,4 Prozent auf das oberste Zehntel entfallen.

Steuern nicht nach Leistunsgfähigkeit

Die Steuern und Abgaben, die der Staat von den Bruttoeinkommen einhebt, ändern an diesen Verhältnissen wenig. In absoluten Zahlen liefern Gutverdiener natürlich viel mehr Geld an den Fiskus ab als schlecht situierte Bürger, doch anteilsmäßig steigen die Haushalte in etwa pari aus. Das obere Drittel berappt aus seinem 60-Prozent-Anteil am gesamten Einkommen 63 Prozent aller Steuern und Sozialabgaben, das untere Drittel mit zwölf Prozent des Einkommens zahlt zehn Prozent der Steuern.

Die Kluft zwischen Gut- und Schlechtverdienern wächst.
Foto: APA/BARBARA GINDL

Hintergrund: De facto ähnelt das heimische Steuersystem einer Flattax. Zwar ist die Lohn-und Einkommensteuer progressiv, schlägt mit steigendem Einkommen also immer stärker zu, doch die indirekten Steuern belasten die unteren Schichten verhältnismäßig stärker als die oberen. Die Sozialabgaben sind durch die Höchstbeitragsgrundlage nach oben begrenzt, die stark konzentrierten Vermögenserträge gering belastet. Von ihrem Bruttoeinkommen liefern Erwerbstätige mit hohem Einkommen unterm Strich nur einen unwesentlich höheren Anteil an Steuern und Abgaben ab als Schlechtverdiener, nämlich etwas über 40 Prozent. "Die Steuerbelastung orientiert sich in Österreich nicht an der Leistungsfähigkeit", urteilt Guger.

Staat verteilt kräftig um

Umverteilt wird aber trotzdem, und zwar via Sozialleistungen: Das obere Drittel der Haushalte bezieht nur 26 Prozent der staatlichen Geld- und Sachleistungen, das untere bekommt 42 Prozent. Letzterer Gruppe kommen besonders stark die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung und Wohnen zugute, jene für Gesundheit, Pflege und Bildung werden hingegen relativ gleichmäßig verteilt.

Der Eingriff der öffentlichen Hand gleicht das Wohlstandsgefälle damit zu einem beträchtlichen Teil aus: Nach Umverteilung hat das obere Drittel der Haushalte nicht mehr über 60 Prozent, sondern nur mehr 49 Prozent des Einkommens, das untere Drittel legt dafür von zwölf auf 21 Prozent zu. Wenig ändert sich für die Mittelschicht mit einem Plus von 28 auf 30 Prozent.

Auf das einzelne Einkommen heruntergebrochen: Nach Steuern und staatlichen Leistungen hat ein durchschnittlicher Haushalt aus dem oberen Drittel ein Viertel seines monatlichen Einkommens verloren, während im unteren Drittel ein Plus von gut 40 Prozent zu Buche schlägt. Im untersten Zehntel beträgt der Einkommenszuwachs sogar fast 200 Prozent.

Der Staat verteile heute stärker um als noch um die Jahrtausendwende, sagt Guger – einerseits automatisch, weil mehr Menschen ohne (Vollzeit-)Job Unterstützung bräuchten, andererseits durch aktive Maßnahmen wie den Ausbau der Kinderbetreuung. Und dennoch: Die wohlfahrtsstaatliche Maschinerie schafft es immer weniger, die rasant wachsende Ungleichheit zu kompensieren. Hat das oberste Zehntel der Haushalte nach erfolgter Umverteilung im Jahr 2000 über das 4,3-fache Einkommen des untersten Zehntels verfügt (in dem Fall sind abermals nur Löhne und Pensionen inkludiert), so war es 2010 bereits das 5,1-fache – eine gefährliche Entwicklung, wie Guger glaubt: Eine auf Dauer zunehmende Spaltung drohe nicht nur den sozialen Zusammenhalt zu gefährden, sondern schwäche auch das Wachstum, zumal die konsumfreudigen unteren Schichten an Kaufkraft verlieren.

Ruf nach neuem Steuersystem

Wie kann der Staat gegenlenken, ohne die Steuerquote weiter anzuheben? Einerseits empfiehlt Guger, mehr in Sach- statt in Geldleistungen zu investieren, etwa in Bildung und Kinderbetreuung; derartige Einrichtungen kämen besonders Schlechtverdienern zugute und steigerten die Chancen, auf eigenen Beinen zu stehen. Auf der anderen Seite sollten die Haushalte "nach ihrer Leistungsfähigkeit" besteuert werden, so der Experte: Entlastung der Lohneinkommen, besonders von den Sozialbeiträgen, dafür höhere Steuern auf Vermögen und die daraus resultierenden Erträge. Laut Studie betrug die Abgabenlast auf Einkommen von Unselbstständigen 2010 im Schnitt 43 Prozent, Selbstständige berappten 30 Prozent. Bei Zinsen und Dividenden waren es nur 25 Prozent, bei Mieteinkünften 21 Prozent.

Um die Ungleichheit zu bekämpfen, sollten die Gewichte verschoben werden, sagt Guger: "Insgesamt muss die Steuerlast nicht zwingend steigen." (Gerald John, 25.5.2016)