Die Überreste eines bei Le Moustier in Frankreich gefundenen Neandertaler-Babys gelten als eines vollständigsten bekannten Skelette dieser unserer nächsten Verwandten. Das Kind war zum Zeitpunkt seines Todes maximal vier Monate alt. Warum es starb, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

Foto: Musée national de Préhistoire, Les Eyzies-de-Tayac Sireuil/ Ph. Jugie

Leipzig – Würde ein Neandertaler neben uns in der U-Bahn sitzen – wir würden ihn womöglich nicht einmal bemerken, auch wenn sein Körper gedrungener und kräftiger ist. Forscher um Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben im Fachblatt "PNAS" untersucht, ob diese Unterschiede beim Körperbau erst im Laufe der ersten Jahre oder schon bei der Geburt sichtbar sind. Die eindeutige Antwort: Schon als Babys sind Neandertaler-Babys stämmiger.

Die Linien des modernen Menschen und des Neandertalers haben sich vor rund 600.000 Jahren getrennt. Knochenfunde verraten den Forschern, dass die Neandertaler nicht nur ein fliehendes Kinn, prominente Oberaugenwülste und eine größere Nase besaßen. Sie besaßen auch einen anderen Körperbau: Die Knochen der Neandertaler waren kräftiger, die Becken breiter und die Gliedmaßen kürzer. Dabei könnte es sich um eine evolutionäre Anpassung an das kältere Klima Europas und Asiens handeln, da ein kompakterer Körper weniger Wärme an die Umwelt verliert. Die Skelettunterschiede könnten jedoch auch durch unterschiedliche Lebensweisen und Bewegungsmuster entstanden sein, denn mechanische Belastungen verändern die Ausbildung von Knochen.

Die Wissenschafter haben dies anhand zweier Skelette von Neandertaler-Babys untersucht. Einer der Funde stammt aus der Mezmaiskaya-Höhle im Kaukasus. Archäologen hatten dort 1993 auf einer Fläche von lediglich etwas mehr als einer DIN A4 Seite eines der bislang besterhaltenen Neandertalerskelette entdeckt. Wie sich herausstellte, hatten Neandertaler vor 70.000 Jahren in der Höhle ein zwei Wochen altes Neugeborenes bestattet. Der zweite Fund ist ein maximal vier Monate alter Säugling aus einer Höhle nahe dem Ort Le Moustier in der französischen Dordogne. "Beide Skelette waren außerordentlich gut erhalten. Außerdem stammen sie aus weit auseinanderliegenden Regionen – für unsere Analyse war das ideal, denn damit umfasst sie einen großen geografischen Bereich", sagt Tim Weaver vom MPI für evolutionäre Anthropologie.

Genetische Unterschiede

Die Forscher bestimmten die Länge und Dicke von Becken-, Arm- und Beinknochen und verglichen diese mit Daten von insgesamt 68 Neugeborenen moderner Menschen aus einer Sammlung des Nationalmuseums für Naturgeschichte in Washington. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neandertaler-Babys schon mit einem anderen Knochenbau geboren wurden als ein heutiges Kind. Die Unterschiede im Körperbau müssen also genetischer Natur sein, denn abweichende Gewohnheiten wie Jagd, Werkzeuggebrauch oder Gang können sich in diesem Alter noch nicht auf das Skelett auswirken. "Egal in welchem Alter: Neandertaler sahen immer aus wie Neandertaler", sagt Jean-Jacques Hublin, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut.

Zwar könnten auch die mütterliche Ernährungsweise und Aktivität die Entwicklung des kindlichen Skeletts beeinflusst haben. Unterschiede im Erbgut sind den Forschern zufolge jedoch als Ursache wahrscheinlicher. So passen einige Befunde wie die kürzeren Gliedmaßen zur Klima-Hypothese, der zufolge der Körperbau der Neandertaler an Kälte angepasst war. Andere, wie etwa ein verlängertes Schambein, passen nicht dazu. Die Forscher vermuten, dass dieses für die Fortbewegung und den Geburtsprozess der Neandertaler vorteilhaft gewesen sein könnte. (red, 24.5.2016)