In einem Interview mit einem Pariser Radiosender betonte der unbeirrbare Algerier Boualem Sansal im Jänner, er wolle mit seinem Werk "2084" nicht den Rechtsextremen Vorschub leisten. Lob erhielt er von der Académie française, die ihm den Großen Preis verlieh und von Michel Houellebecq, der in "Unterwerfung" selbst einen islamischen Wahlsieg in Frankreich beschrieben hat.

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Boualem Sansal, "2084. Das Ende der Welt" € 24,- / 288 Seiten. Merlin-Verlag, Gifkendorf 2016

In einem Interview mit einem Pariser Radiosender betonte der unbeirrbare Algerier Boualem Sansal im Jänner, er wolle mit seinem Werk "2084" nicht den Rechtsextremen Vorschub leisten. Lob erhielt er von der Académie française, die ihm den Großen Preis verlieh und von Michel Houellebecq, der in "Unterwerfung" selbst einen islamischen Wahlsieg in Frankreich beschrieben hat.

Wie so mancher Schriftsteller seines Landes könnte er bequem im Pariser Exil leben – wo er für fast alle seiner sieben Romane Preise erhielt. Doch Boualem Sansal (66) bleibt seiner Heimat treu; er wohnt unauffällig außerhalb der Hauptstadt Algier und trotzt der täglichen Gefahr durch Islamisten und Regimeschergen, die er zu attackieren nicht müde wird. Man sähe es ihm gar nicht an: Mit seinem weißen Pferdeschwanz, Nickelbrille und "buddhistischen Lächeln" (so ein Vertreter seines Pariser Verlags Gallimard) ähnelt Sansal eher einem weltentrückten Schamanen als einem hochpolitischen Alleinkämpfer.

Dabei ist sein neues Werk durchaus fatwaverdächtig. Anfang Mai auf Deutsch erschienen, beschreibt 2084 den erstickenden, infernalischen Alltag einer theokratischen Diktatur, mit der nur der Islam gemeint sein kann.

Der Gottesstaat Abistan, wie ihn Sansal nennt, erinnert mit seinen endlosen Wüsten und Karawanen jedenfalls stark an Algerien. Nichts und niemand bewegt sich in dem erstarrten Land; das Reisen ist nur den Pilgern erlaubt. Warum? Die Antwort auf solcherlei Fragen lautet mechanisch: "Yölah ist groß und Abi ist sein treuer Entsandter."

Im Namen Yölahs, des Allmächtigen, erfolgen Massenhinrichtungen und entstehen Vernichtungslager; organisiert werden sie von Abi, seinem Propheten, den niemand je erblickt hat. Umso präsenter ist Bigaye, hinter dem sich das Orwell'sche Pendant von Big Brother verbirgt – "Big Eye", das große Auge.

Dabei gibt es in Abistan seit dem Großen Heiligen Krieg gar keine Feinde mehr, weder äußere noch innere. "Und eines Tages, ohne irgendeine Ankündigung, verschwand das Wort Feind aus dem Sprachschatz", heißt es. "Feinde zu haben ist ein Zeichen von Schwäche, der Sieg ist total oder gar nicht."

Orwell und Kafka

Und da Yölah noch größer ist als das Auge, ist sein Sieg notgedrungen total: Er reicht bis in die Köpfe, aus denen die Erinnerung verschwunden und durch die Unwissenheit ersetzt worden ist. Sogar der Zufall – auch ein potenzieller Feind jedes totalitären Systems – ist aus dem Reich verbannt, das heißt aus der Existenz. Denn Yölahs Reich kennt auch keine Grenzen. Vielmehr gilt: "Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke." Und weiter: "Tod ist Leben, Lüge ist Wahrheit."

In diesem orwellschen und kafkaesken Universum spielt die Geschichte Atis, eines jungen Mannes, der sein richtiges Alter nicht kennt, aber eine menschliche Fähigkeit bewahrt hat: Er kann zweifeln. Er zweifelt zum Beispiel, ob er häretische Nachbarn denunzieren sollte. Vor Gericht fragt ihn der Richter: "Würdest Du es uns sagen, wenn einer seine Pflicht nicht erfüllte? Erkläre ein wenig, würdest du ihm die gerechte Strafe zufügen?" Abi stammelt, ob das bedeute, den Nachbarn zu töten. Der Richter nickt streng: "Du hast gezögert ... warum?"

Später besucht Ati ein "Ghetto", ein Dorf, in dem Menschen aus einer früheren Zeitrechnung leben. Fassungslos blickt er auf die Straßenverkäuferinnen, "erkennbar als menschliche Frauen und nicht als vorübergleitende Schatten, das heißt, sie trugen weder Masken noch Burniqabs und erkennbar keine Bandagen unter ihren Blusen". Zitternd sieht Ati: Diese Frauen singen bei der Arbeit, sie schwatzen in der Pause und sonnen sich!

Über Umwege besucht Ati ein Museum des 20. Jahrhunderts, in dem die wildeste Szene auf einem Pappschild kurios erklärt ist: "Französisches Bistrot: Spitzbuben aller Art necken leichte Mädchen."

Ati beginnt sich langsam zu fragen, ob Abistan wirklich grenzenlos sei, und entwickelt ein unbekanntes Gefühl – Hoffnung. Immer stärker hofft er, irgendwo eine Landesgrenze zu finden und sie überschreiten zu können.

Sansals Erzählung ist oft langatmig, bewusst monoton und nicht frei von Ungereimtheiten, etwa was die Billigung eines Ghettos anbelangt. Aber wie er in seiner "Vorwarnung" zu dem Buch schreibt: "Der Leser möge sich davor hüten, die Geschichte für wahr zu halten." Schließlich habe auch Orwells Vorbild 1984 nicht real existiert – "und wirklich keinen Grund, in Zukunft zu existieren". Deshalb gelte: "Schlaft ruhig, brave Leute, alles ist völlig falsch und der Rest ist unter Kontrolle."

In Wahrheit stellt sich der Leser unablässig die Kernfrage: Könnte eine religiöse Diktatur wie in 2084 beschrieben aus dem heutigen Islam hervorgehen? Wohnt seinem lebensumspannenden Entwurf etwas Totalitäres inne? Dass der Muslim Sansal dies bejaht, ist nicht neu: Er warnt davor seit seinem ersten Roman, Der Schwur der Barbaren, bis zu seinem letzten Essay, Allahs Narren – Wie der Islam die Welt erobert.

Sansals Fiktion

In einem Interview mit einem Pariser Radiosender betonte der unbeirrbare Algerier im Jänner, er wolle mit seinem Werk nicht den Rechtsextremen Vorschub leisten: "Das ist nicht die Lösung." Lob erhielt der Algerier auch von der Académie française, die ihm den Großen Preis verlieh – und von Michel Houellebecq, der in Unterwerfung selbst einen islamischen Wahlsieg in Frankreich beschrieben hat: Er bezeichnete 2084 als "plausibel".

Sansals Fiktion ist auf jeden Fall plausibler als Houellebecqs zwar viel unterhaltsamere, aber politisch unausgegorene Vision eines islamistischen Wahlsiegs in Paris: Während sie schon daran scheitert, dass es die französischen – anders als die britischen – Muslime, von Alibiausnahmen abgesehen, gar nicht in die Spitzenpolitik schaffen, scheint ein totalitärer Gottesstaat wie Abistan eher denkbar, zumindest in einem Land wie Algerien, das vom Kolonialismus über den Boumedienne-Sozialismus bis zur verkappten Militärherrschaft von heute nur immer unter der Knute lebte. Auch Iran, Saudi-Arabien oder das IS-Gebiet zeugen in unterschiedlicher Intensität von der Möglichkeit eines 2084.

Um beim Vergleichen zu bleiben: Sansal unterlegt seinem Epos eine ähnliche Ironie wie Houellebecq – als könnte man sich dem Thema nur satirisch nähern. Eher ein Bericht als ein Roman, ist der Text schwerer verdaulich, auch weniger originell (und originär) als Orwells Modell. Sein Warnruf von jenseits des Mittelmeeres ist aber so ernst gemeint und zu nehmen wie 1984. Und auch jetzt dürfen sich die Leser fragen, wie viel davon verwirklicht sein wird, wenn das ominöse Jahr erreicht sein wird. Antwort im Jahre 2084. (Stefan Brändle, 25.5.2016)