Wien – Als der Scherge kommt, ihn abzuholen, erkennt er in ihm seinen Jugendfreund Pät und schenkt ihm die Uhr seines Großvaters – das Einzige, was sie ihm gelassen haben. Zur Zeit des totalitären Regimes ist die Armbanduhr in Jérôme Junods Stück Morsch die Zeitzeugin eines Kreislaufs von Gewalt, Resignation, Vergessen und erneuter Gewalt.

Während das Foltergefängnis bombardiert wird, warten die Häftlinge Maier (Jan Nikolaus Cerha, li.) und Luchs (Martin Schwanda) auf ihre Chance zu fliehen.
Foto: Andrea Klem

Die drei Darsteller (Jan Nikolaus Cerha, Saskia Klar, Martin Schwanda) spielen in der Uraufführung insgesamt 14 unterschiedliche Charaktere in fünf verschiedenen Zeitebenen. Das hört sich kompliziert an, ist jedoch sensationell umgesetzt: Blitzschnell, mit dem Switch des Lichtkegels, wechseln sie von den Häftlingen Maier und Luchs im Versteck des Foltergefängnisses zum Tisch der kleinbürgerlichen Familie eines ehemaligen Schergen, der mit dem Humpen in der Hand den strikten Strukturen nachtrauert.

Live im Studio einer Literatursendung folgt der Wutausbruch des Kritikers Cerha über die "betäubte autoritäre Scheißwohlfühlgesellschaft" – stilecht mit Zigarette im Mund.

In der Literatursendung der 3. Generation: Kritiker (Jan Nikolaus Cerha, li.) boykottiert jegliches Establishment, der Moderator (Martin Schwanda) versucht verzweifelt über das Buch zu sprechen und die Historikerin (Saskia Klar) deckt in Rage sogar ein ehemaliges Verhältnis auf.
Foto: Andrea Klem

Die Jugendlichen Pät, Bäverly und Älex lästern aktuell über die langweilige Pflichtlektüre des Geschichtelehrers, dessen Parole "Niemals vergessen" nur lachhaft und "morsch" ist. "Wildtürkis" zufolge hingegen ist mit der Mjusikl-Fassung der Ereignisse "bombeviel Ziegel" zu machen.

Hornhaut auf der Seele

Permanent auf der Bühne sichtbar (Bühne & Kostüm: Lydia Hofmann), signalisieren die fünf durch Rindenmulch verbundenen Zeitebenen nicht nur die Überlappung der Ereignisse, sondern gruseligst auch deren ständig drohende Replik.

Junod lässt seine Charaktere in jeder Generation um Gut und Böse neu verhandeln, die Vorahnung der Zukunft ergibt sich aus dem Wissen um die Vergangenheit. Laut der Historikerin muss jeder "Hornhaut auf der Seele" haben, der die Revolte in Maiers Buch nicht spürt. Der Stehsatz "Niemals vergessen" wird zum frommen Wunsch auf dem Weg zur Folterbank. (Anja Krämer, 23.5.2016)

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