Menschen, die nicht ständig in Österreich leben, mit dem Parteiensystem nicht so vertraut sind und den spannendsten Wahlabend der Zweiten Republik in den diversen TV-Sendern verfolgten, musste das politische System am Sonntag etwas seltsam vorkommen.

Es schien, als dominiere hier ein Zweiparteiensystem – von FPÖ und Grünen, flankiert von zwei Minigruppen, Neos und Stronachs. So etwas wie einen Regierungschef gebe es nicht. Und man konnte nicht erkennen, welche Parteien in diesem Land die Regierung bilden, denn: SPÖ und ÖVP waren schlicht und einfach abgemeldet. Die für Vertreter der ehemaligen Volksparteien in den TV-Studios reservierten Stühle blieben leer. SPÖ und ÖVP hätten wissen lassen, dass sie "mit dieser Wahl nichts zu tun haben", erläuterte ein ORF-Moderator vorwitzig die Lage.

Tatsächlich? SPÖ und ÖVP regieren gemeinsam, mit dem neuen Kanzler Christian Kern. Was bedeutet es dann, wenn kein namhafter Regierungsvertreter etwas über die aktuelle politische Lage und die Perspektiven sagen will? Die Bürger sind daran so interessiert wie selten zuvor. Das belegen sensationelle Zugriffszahlen in Onlineforen, Interesse an Zeitungen, das zeigen die Seherquoten im Fernsehen.

Die Ignoranz belegt, wie sehr SPÖ und ÖVP derangiert sind, in internen Umfragen liegt die Zustimmung unter 20 Prozent. Sie führen einen politischen Überlebenskampf, wahlunfähig – unabhängig davon, wer an der Spitze des Staates steht. (Thomas Mayer, 23.5.2016)