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Werden in Europa die Grenzen wieder dichtgemacht? Der Ton wird rauer, sagt EU-Kommissarin Thyssen.

Foto: Rudolf Semotan, Reuters

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Thyssen: "Meine persönliche Meinung ist, dass anerkannte Flüchtlinge gleich behandelt werden sollen wie Inländer."

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STANDARD: Teilen Sie den Eindruck, dass in Europa eine neue Welle des Nationalismus hochkommt, der sich gegen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten richtet?

Thyssen: Ja, wenn man sich die politische Evolution der vergangenen Monate ansieht, ist klar, dass es eine Bewegung in diese Richtung gibt. Die Frage ist: Wie lässt sich das ändern? Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als würden wir den Menschen Denkverbote auferlegen. Vielmehr müssen wir anfangen, die Vorteile der EU, die Vorteile offener Grenzen besser zu erklären. Meine zentrale Botschaft lautet daher: Sehr geehrte Damen und Herren, sehen Sie sich an, welchen ökonomischen Mehrwert unsere Europäische Union bietet.

STANDARD: In Österreich arbeiten 220.000 Menschen aus Osteuropa. Viele haben das Gefühl, die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa gehe auf Kosten heimischer Jobs.

Thyssen: Die EU bietet nicht für jeden Menschen zu jedem Zeitpunkt nur Vorteile. Aber insgesamt bringt sie Wachstum und Arbeitsplätze. Gerade Österreichs Wirtschaft mit ihrer Exportindustrie profitiert vom grenzüberschreitenden Handel. Allein 2015 exportierte Österreich Waren im Wert von über vier Milliarden Euro nach Ungarn. Ungarn liegt damit an der fünften Stelle von den 28 EU-Mitgliedsstaaten, was österreichische Ausfuhren anlangt. Das Land lebt von der Offenheit. Es ist auch eine Tatsache, dass in den Diskussionen oft nur eine Seite der Medaille gesehen wird.

STANDARD: Was meinen Sie?

Thyssen: Nehmen Sie die strittige Debatte her, die in Europa über die Entsendung von Arbeitnehmern in andere Länder entbrannt ist. In Österreich arbeiten derzeit etwa 100.000 aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer. Das wird immer wieder thematisiert. Weniger bekannt ist, dass 50.000 entsandte österreichische Arbeitnehmer im Ausland tätig sind – sehr viele davon in Deutschland.

STANDARD: Arbeiterkammerdirektor Werner Muhm verlangt, dass Österreich ein Recht bekommen müsse, seinen Arbeitsmarkt gegen Jobsuchende aus anderen EU-Staaten abzuschotten. Was sagen Sie dazu?

Thyssen: Quoten für Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern? Ich hoffe, dass wir so eine Regel nie einführen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Kernbestandteil der Union und Teil der EU-Verträge seit 1957 ...

STANDARD: ... juristische Argumente bringen in dieser Debatte doch wenig.

Thyssen: Darum würde ich sagen, dass die Abschottung des Arbeitsmarktes zu Reaktionen führen würde. Andere EU-Staaten würden sich fragen: "Wenn unsere Leute nicht mehr hinkönnen, warum sollten wir dann noch österreichische Dienstleistungen und Waren akzeptieren? Der Kaffee aus Österreich verdrängt ja unseren eigenen Kaffee in den Supermärkten." Die Reaktion wäre, dass andere Staaten beginnen würden, ihre Märkte abzuschotten – das wäre das Ende der EU. Das würde uns nur Probleme bereiten, politische wie ökonomische.

STANDARD: Aus Osteuropa entsandte Arbeitnehmer bleiben in der Regel in ihren Heimatländern sozialversichert. Das macht sie billig, der ÖGB nennt das Lohndumping. Sie aber wollen daran nichts ändern.

Thyssen: Wir haben vor kurzem eine Reform der seit 1996 geltenden Entsenderichtlinie vorgestellt. Die Unterschiede bei den Sozialsystemen tasten wir nicht an. Aktuell dauert eine Entsendung ins Ausland im Schnitt vier Monate. Oft werden Arbeitnehmer in mehrere Staaten geschickt. Man arbeitet drei Monate hier, ein halbes Jahr dort, vier Monate da. Müssten die Sozialversicherungsbeiträge immer an das jeweilige Land angepasst entrichtet werden, würde das ein verwaltungstechnisches Chaos auslösen. Das wäre nicht administrierbar und würde dafür sorgen, dass Entsendungen vermehrt schwarz stattfinden.

STANDARD: Welche Veränderungen bringt Ihr Reformvorschlag für Österreich?

Thyssen: Dass die Dauer für die Entsendung eines Arbeitnehmers 24 Monate nicht übersteigen darf. Derzeit gilt, dass entsandte Arbeitnehmer nicht unter dem Mindestlohn bezahlt werden dürfen. Mit der Reform schlagen wir vor, dass künftig alle Regelungen, die für die Lohnfestsetzung relevant sind, gelten müssen.

STANDARD: In Österreich ist schon festgeschrieben, dass für entsandte Arbeitnehmer die Kollektivverträge gelten.

Thyssen: Wenn Österreich bereits alle kollektivvertraglichen Regelungen anwendet, dann geht das genau in die Richtung, in der wir die europäische Reglung haben wollen. Österreich erhielte eine europäische Absicherung der geübten Praxis.

STANDARD: Viele Menschen fürchten, dass die Flüchtlinge nicht integrierbar sein werden. Wie sehen Sie das?

Thyssen: Es ist außer Frage, dass die Flüchtlinge die Gesellschaft zunächst etwas kosten werden. Wenn es aber gelingt, sie zu integrieren, können sie einen positiven Beitrag leisten. Wenn ich mir die EU-Länder ansehe, waren einige in puncto Integration erfolgreicher als andere. In Österreich sind Menschen mit Migrationshintergrund weniger erfolgreich in der Schule, sie haben Schwierigkeiten, sich am Arbeitsmarkt zu integrieren. Solche Probleme gibt es auch in meiner Heimat Belgien. Diese Probleme müssen angegangen werden.

STANDARD: Wie?

Thyssen: Das ist eine komplexe Frage, die Sie Spezialisten stellen sollten. Die Antwort wird etwas mit besserer Sprachvermittlung zu tun haben. Eine Priorität muss sein, Kinder früh, im Vorschulalter, zu fördern und an Bord zu bringen.

STANDARD: Es gibt in Österreich eine Debatte darüber, ob Flüchtlingen die Mindestsicherung gekürzt werden soll. Was denken Sie?

Thyssen: Meine Meinung ist, dass anerkannte Flüchtlinge gleich behandelt werden sollen wie Inländer. Das sind keine Leute, die aus Spaß in der Welt herumreisen, sondern Menschen, die Schutz brauchen.

STANDARD: In Österreich dürfen Asylwerber schon nach drei Monaten arbeiten – aber nur sehr eingeschränkt, etwa als Erntehelfer. Sollte das geändert werden?

Thyssen: In der EU gilt, dass Asylwerber spätestens neun Monate nach Antragstellung Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten müssen. Aber wir ersuchen die EU-Länder, das schon früher zu erlauben. Belgien und Luxemburg hatten eine Sechs-Monate-Grenze, haben sie aber nun auf vier Monate heruntergesetzt, weil gesehen wurde, dass es für die Integration wichtig ist, Flüchtlingen so früh wie möglich Chancen am Arbeitsmarkt zu geben. Die Menschen haben etwas zu tun, sie verlieren nicht ihre Motivation.

STANDARD: Dann ist die Regelung illegal?

Thyssen: Nach neun Monaten sollte es vollen Zugang geben – wiewohl die Mitgliedsstaaten selbst angehalten sind, die Dinge gut zu organisieren. Österreich unternimmt große Anstrengungen, Flüchtlinge zu empfangen und zu integrieren und erhält dafür auch Unterstützung, unter anderem vom Europäischen Sozialfonds. (András Szigetvari, 21.5.2016)