Evamarie Kallir: "Ich habe es seit jeher schade gefunden, dass man Menschen in Kastln einteilt."

Foto: Heribert Corn

Aus den Fenstern der Wohnung von Evamarie Kallir blickt man direkt auf die Vorortelinie. Dort, in vielleicht 30 Metern Entfernung auf der Schienentrasse, fahren in jeder U- oder S-Bahn dutzende Fahrgäste vorbei. Wenn Kallir im Sommer auf der gepolsterten Fensterbank in der Sonne sitzt, haben diese freien Blick auf die alte Dame. Doch daran hat sich die 90-Jährige längst gewöhnt.

Die Wohnung ist klein: eine Küche und ein Zimmer im dritten Stock eines Hauses, mitten in dem von Einwanderern mitgeprägten Bezirk Wien-Ottakring. Das Klo ist am Gang, aber immerhin gibt es einen Lift. "Wenn ich in der Gegend einkaufen gehe, höre ich vielfach kein einziges deutsches Wort", sagt die langjährige Mieterin.

Das meint Kallir nicht als Kritik, sondern als Beschreibung: so, wie es eben ist. Das Fremde, scheinbar Gegensätzliche, schreckt sie nicht ab, sondern spornt sie vielmehr zu Annäherung und Auseinandersetzung an.

So war es bereits in den 1940er-Jahren in New York, wo die gebürtige Wienerin – mit ihrer Familie vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohen – als Kunsterzieherin schwarze und Latino-Kinder betreute.

Einsame Rückkehr

So war es, als sie sich als einziges Familienmitglied entschloss, wieder nach Österreich zurückzukehren: Hier, fern der Familie, habe sie neu beginnen können – und keine Erwartungen mitgebracht, die enttäuscht hätten werden können. "Viele Rückkehrer suchten in Österreich ihre Jugend. Ich hatte das Land noch als Kind verlassen. Ich suchte daher nichts", erklärt sie ihren ungewöhnlichen Schritt.

In den 1960er-Jahren arbeitete Kallir als Kunsterzieherin im Tiroler SOS Kinderdorf Hermann Gmeiners. In den 1980ern gründete sie zusammen mit der Sozialarbeiterin Elisabeth Zimmermann das Wiener Regenbogenhaus, wo Personen in Ausnahmesituationen eine Gemeinschaft finden. Das Konzept entsprach jenem der US-amerikanischen "neighbourhood houses" und sollte das Einanderkennenlernen verschiedenster Menschen ermöglichen: in Österreich damals eine Pionierleistung.

Zur Sozialarbeit, so Kallir, habe sie erst gefunden, "als mir klargeworden war, dass ich keine Künstlerin bin". Eine in Wien nach dem Krieg begonnene Ausbildung in Glasmalerei beendete sie nicht. Stattdessen bemühte sie sich erfolgreich, für Kinderdorf-Kinder in den USA Paten zu finden.

Zur Zeit hilft Kallir Kindern aus Flüchtlings- oder Einwanderfamilien beim Deutschlernen: Sie empfängt ihre Schützlinge in ihrer Ottakringer Wohnung, in der sie seit inzwischen über 40 Jahren lebt. Trotz ihres hohen Alters hält sie diese allein in Schuss.

Die Wohnung bietet keinen Luxus, aber es gibt einen PC mit Internetanschluss. Hier hat Kallir einen Leserbrief verfasst, der am 14. April im Standard abgedruckt wurde. Anlass waren die damals auch innerhalb der SPÖ aufgekommenen Proteste gegen die inzwischen beschlossene Asylnovelle: Sie ermächtigt Regierung und Nationalrats-Hauptausschuss unter anderem, eine Verordnung in Kraft zu setzen, die die Mehrzahl der Flüchtlinge von Asyl verfahren in Österreich ausschließt.

In dem Brief fokussiert Kallir auf die Vorphasen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. "Wie konnte das geschehen?", fragt sie und antwortet mit einer Fünf-Stufen-Schilderung: Die Lage habe sich immer weiter zugespitzt, hin zu einer durch "korrekte Gesetze legitimierten" Vertreibung und Vernichtung von Juden und anderen Minderheiten.

Gegen den Nationalismus

"Bei welcher Stufe sind wir heute?", setzt Kallir in ihrem Brief rhetorisch fort – und repliziert darauf im Standard-Gespräch: Bei allen Unterschieden zu damals: Bedenklich sei, dass die geplante Aufweichung internationalen Flüchtlingsrechts gesetzlich abgesichert wurde. Das ermögliche Argumente wie: "Es ist alles in Ordnung, denn es gibt dazu ja ein Gesetz." Auch sei, so wie damals, in Europa der Nationalismus wieder zunehmend Triebfeder staatlichen Handelns. So würden etwa Flüchtlinge zur nationalen Bedrohung stilisiert. Die Offenheit der Gesellschaft sei akut bedroht, meint die Hochbetagte.

Wie kommt es, dass Evamarie Kallir konsequent das Gemeinsame über das Trennende stellt? Woher nahm sie die Kraft, immer wieder gegen den Strom zu schwimmen – auch bei ihrer Rückkehr aus den USA nach Österreich?

Sie selbst hat auf diese Fragen drei Antworten. Erstens ein Zitat: "Wer überlebt, hat einen Auftrag", habe Leon Zelman gesagt, der Gründer des Jewish Welcome Service in Wien, der selbst in mehreren Konzentrationslagern war. Sie selbst habe sich trotz Vertreibung "immer als Österreicherin gefühlt" – und daher hier "Positives bewirken wollen".

Zweitens den Hinweis auf ihren im Christen- und Judentum wurzelnden Glauben: Für Kallir ist der Glaube die Grundlage für Vertrauen und Würde des Menschen.

Drittens ein Versprechen an sich selbst: "Ich habe es seit jeher schade gefunden, dass man Menschen in Kastln einteilt: hier psychisch Kranke, da Junkies, dort Obdachlose", sagt die langjährige Lehrerin und Sozialarbeiterin. Man müsse diese "Kastln" sprengen, um zu verhindern, dass sich die Gesellschaft gegen Neues, scheinbar Bedrohliches, abdichte.

Die Folgen eines solchen Abdichtungsprozesses hat Kallir selbst erlebt, in einem Alter zwischen Kindheit und Jugend: 1938, als aus der gutbürgerlichen Wiener Kunsthändlerfamilie Kallir – dem Vater gehörte die "Neue Galerie", heute "Galerie nächst St._Stephan" in Wien – nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich, binnen weniger Monate entrechtete und enteignete "Judenstämmlinge" wurden. Die Galerie wurde der Familie nach Ende des Zweiten Weltkrieg zurückerstattet.

Verfemt und verfolgt

Dass beide Eltern jüdische Vorfahren hatten, war der damals zwölfjährigen Kallir bis zum Anschluss wenig wichtig: eine Geschichte von früher, ohne viel Relevanz. Als Katholikin hatte sie die Schule bei den Ursulinen in Wien besucht – doch laut der nationalsozialistischen Ideologie war ihre Glaubenszugehörigkeit zweitrangig.

Sie erinnert sich an angstvolle Gespräche über jüdische Bekannte, die Selbstmord begangen hatten: Viele in Österreich verzweifelten damals, erzählt sie. Und als sei es gestern gewesen, habe sie vor Augen, wie die Eltern im offenen Kamin ein von den Nazis verbotenes Buch nach dem anderen den Flammen überantworteten – aus Furcht, andernfalls einen Festnahmevorwand zu liefern.

Mit "irrsinnigem Glück", sagt Kallir, sei es der Familie gelungen, dem entfesselten Hass zu entkommen – erst in die Schweiz, dann in die USA. Für sie, den Teenager, sei die Flucht nur schrecklich gewesen: "Ich hatte von einem Tag auf den anderen meine gesamte Lebenswelt verloren."

In diese Welt habe sie sich zurückgesehnt. Auch das sei wohl mit ein Grund gewesen, das wohlhabende Amerika 1956 wieder zu verlassen und von da an in Österreich zu leben. Sogar ihren amerikanischen Pass legte sie zurück. Dennoch: Auf die Frage, was ihr Österreich und "Heimat" heute, mit 90 Jahren, bedeuten, antwortet Kallir: "Jedenfalls nichts Exklusives." (Irene Brickner, 22.5.2016)