Paul Mason bei der Arbeit ...

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... und beim Referieren.

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Wien/London – In seinem Buch "Postkapitalismus" versucht der britische TV-Journalist Paul Mason "Grundrisse einer kommenden Ökonomie" zu entwerfen. Der Neoliberalismus ist am Ende, so seine Grundthese, die er mit Beispielen aus Theorie und Praxis zu untermauern sucht. Die Thesen von Karl Marx werden dabei mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfasstheiten des digitalen Zeitalters kombiniert.

Die einen wie Naomi Klein und Slavoj Žižek feiern den 56-jährigen Leiter der Wirtschaftsredaktion von Channel 4 News als visionären Analytiker, die anderen nennen ihn einen linken Schaumschläger ohne Substanz. "Leider wirkt das Buch, als ob einer auf der Blockflöte die Schicksalssymphonie blasen würde", schrieb die "Süddeutsche Zeitung". Am Montag stellt Mason sein Buch im Bruno-Kreisky-Forum in Wien vor. Der APA beantwortete er einige Fragen per E-Mail.

APA: Menschen meiner Generation sind in einer antagonistischen Welt aufgewachsen, die in Kommunismus und Kapitalismus geteilt war. War der Niedergang des Kommunismus die Voraussetzung jener Krise des Kapitalismus, deren Zeugen wir heute werden?

Paul Mason: Ja. Aber nicht nur der Niedergang, sondern vor allem der Zusammenbruch. Leute wie ich, die demokratische Revolutionen in der Tschechoslowakei, Rumänien und der DDR unterstützten, mussten uns mit einer Arbeiterbewegung auseinandersetzen, in der die Illusion, dass die UdSSR etwas Progressives darstellte, die Menschen stark beeinflusste. Aber die massive Schwächung des Verhandlungsposition der Arbeiter hat heute zu einer Situation geführt, in der die Elite Rentabilität durch billige und unfaire Lösungen sucht und dabei den Nutzen für die Menschheit außer Acht lässt. Wir müssen den Fall der Berliner Mauer als erstes Kapitel ansehen. Das zweite Kapitel wird der Sturz des globalen Finanzwesens und der neuen, sich auf ihr Erbe stützenden Elite sein; ihre Herrschaft, gestützt von Polizei-Einsatztruppen und staatlicher Überwachung, sieht bereits so zerbrechlich aus wie damals jene von Erich Honecker.

APA: In Ihrem Buch "Postkapitalismus" stellen Sie weit mehr Fragen, als Sie Antworten geben. Die heutige Politik sucht dagegen den Erfolg mit raschen Antworten, ohne recht zu wissen, was die richtigen Fragen sind.

Mason: Tatsächlich versuche ich sehr wohl Antworten zu geben. Aber ich weiß, dass die Intelligenz der Masse bessere Antworten als ich geben wird, wenn sie nur die Probleme auf die richtige Weise formulieren kann. Zum Beispiel das Problem der Automatisierung: Die Hälfte der Arbeitsplätze wird verschwinden. Ich beklage die Schaffung von Millionen geringfügig bezahlten Jobs, die man nicht wirklich braucht. Aber einen geregelten Übergang in eine Zeit zu gestalten, in der wir alle vielleicht nur noch zehn bis 15 Wochenstunden arbeiten werden, ist keine einfache Sache. Das Grundeinkommen wird jetzt von Politikern der Rechten wie der Linken als Lösung propagiert – und ich unterstütze das –, aber die Komplexität der Umsetzung verlangt nach intensiver Arbeit daran, nach Versuchen, Modellbildungen und Verhaltensänderungen.

APA: Unsere Welt ist sehr komplex geworden, für die Wirtschaft gilt das in noch höherem Maß. Man glaubt kaum mehr, dass die Politiker die Konsequenzen ihrer Entscheidungen überblicken. Gibt es dafür einen Ausweg?

Mason: Die Wirtschaft selbst ist gar nicht so komplex, es ist die Finanzwirtschaft, die diese unkontrollierbare Komplexität verursacht. Tatsächlich macht Technologie die Dinge einfach: Immer mehr Programmiervorgänge können mittels einfacher Bedienungsbausteine getätigt werden. Heute ist es für ein Kind möglich, einen Computer zu bauen. Wenn ich die Dummheit der Politiker fürchte, dann vor allem wegen ihrer Unfähigkeit, der Komplexität des Finanzwesens, die bereits beinahe die Weltwirtschaft zerstört hat, entgegenzutreten und diese zu verringern. Dazu kommt ihre äußerste technokratische Selbstgefälligkeit, was die globale Lage betrifft. Die neoliberale Ideologie hat sie gelehrt, dass jedes Problem gelöst werden kann, und dass die Lösung üblicherweise der Markt ist. Ich fürchte, die europäische Elite könnte bald einen Moment ähnlich wie 1914 erleben, als sich eine Ereignisspirale ihrer Kontrolle entzog.

APA: Welche Prognose haben Sie für den Ausgang des britischen Referendums am 23. Juni? Was wären die Folgen eines Brexit für die britische und die kontinentaleuropäische Wirtschaft?

Mason: Großbritannien wird für den Verbleib stimmen, aber nur, weil keine parteiübergreifende Kampagne für den Austritt zustande gekommen ist. Auf lange Sicht gesehen bin ich für den Austritt, denn ich sehe nicht, dass sich Europa zu einer effektiven Demokratie entwickeln würde. Der ultrarechte Flügel der Konservativen hat rasch klargemacht, dass sie die dem Referendum folgenden Verhandlungen kontrollieren wollen, und dass sie einen Brexit als Mandat für eine Rückkehr zum Thatcherismus betrachten würden. Aus diesem Grund hat jener Teil der Linken, der ebenfalls für einen Brexit wäre, sich ruhig verhalten. Es gibt jede Menge Panikmache darüber, wie schlimm ein Brexit für die britische Wirtschaft wäre, ich glaube jedoch, die Negativeffekte wären nur von kurzer Dauer. Ich mache mir mehr Sorgen über die langfristigen negativen Auswirkungen des Maastricht-Vertrags auf Europas Wachstum. Ich glaube, die EZB und der Stabilitäts- und Wachstumspakt sind zerrüttet.

APA: Die heutigen großen Migrationsbewegungen können als Chance oder als Bedrohung wahrgenommen werden. Was kann man tun, um die sich bietende Chance zu ergreifen?

Mason: Wir haben die Möglichkeit, nett zu sein, solidarisch zu sein, uns unseren eigenen Ängste gegenüber den "Anderen" zu stellen und diese zu überwinden. In Österreich würde ich die Menschen dazu mahnen, eine FPÖ-Präsidentschaft abzulehnen und den traditionellen Parteien, allen voran der SPÖ, sagen, dass sie mit dem Neoliberalismus brechen müssen, dass sie jene Art von netzwerkbasierter horizontaler Politik, die von der radikalen Linken ins Spiel gebracht wurde, aufgreifen sollen. Ich glaube, das postkapitalistische Projekt kann nur von einer Allianz aus radikaler Linken und einer wiedergeborenen Sozialdemokratie umgesetzt werden. Wenn die Flüchtlingskrise ein massives Überdenken dessen, was die Sozialdemokratie ihrer Basis liefern muss, anstoßen kann, ist es gut.

APA: Sie werden in Wien Ihr Buch im Bruno-Kreisky-Forum vorstellen. Er gilt als einer der letzten sozialistischen Politiker, deren Entscheidungen auf ideologischen Grundsätzen fußten. Haben manche seiner damaligen Vorstellungen auch heute noch Gültigkeit?

Mason: Wenn man ein funktionierendes Wirtschaftsmodell hat, wie es der Nachkriegs-Keynesianismus war, dann muss man mit maximaler Energie nach sozialer Gerechtigkeit streben. Das war es wohl, was Kreisky in den 1960ern und 1970ern gemacht hat. Die Ideologie ist natürlich veraltet. Wir müssen ein neues Wirtschaftsmodell finden, das uns über den scheiternden Neoliberalismus hinausträgt, nicht zurück zu einem staatskapitalistischen Modell.

Ich bin aber auch vom Kreisky des antifaschistischen Untergrunds inspiriert. Ich hatte die Möglichkeit, in den 1980ern überlebende Schutzbund-Mitglieder zu treffen. Wie auch Stéphane Hessel in seinem Buch "Empört Euch!" glaube ich, dass Humanität und Verständnis der antifaschistischen Generation der 1930er-Jahre eine wichtige Quelle für heutige Bewegungen für soziale Gerechtigkeit bleiben. So wie Kreisky Vertreter eine Krisengeneration war, so sind es jene jungen Leute, die sich an die Spitze der Bewegung der radikalen neuen Linke gestellt haben.

APA: Sie nennen Ihr Buch "A Guide to Our Future". Heutzutage haben aber die meisten Leute Angst vor der Zukunft. Zu Recht? Was sind Ihre eigenen Ängste und Hoffnungen?

Mason: Meine größte Angst ist, dass sich die Weltordnung rasch und vollständig auflösen könnte. Wenn man nur die Instabilität der Welt beobachtet: Syrien, die Ukraine, die Türkei... Wenn man dann die Stagnation dazugibt, vor der sich die Zentralbanker nun fürchten, dann kann man sich nur schwer vorstellen, dass sich diese Periode der Instabilität still und leise verabschieden könnte. Es könnte mit einem Knall enden. Meine größte Angst ist, dass die Verunreinigung des öffentlichen Diskurses mit dem Verdikt "nichts ist wahr" – das ich teilweise als Produkt der Verzweiflung, teilweise als Produkt von Putins Medienstrategie sehe – tatsächlich erfolgreich sein könnte.

Wir können nur für Gerechtigkeit kämpfen, wenn wir manche Dinge für wahr und andere für falsch halten. Aber die am besten ausgebildete, am meisten globalisierte und persönlich am meisten befreite Generation der Weltgeschichte wird kein negatives Ergebnis zulassen. Das ist meine größte Hoffnungsquelle: Junge Leute zu sehen, die sich erfunden und wiedererfunden haben, trotz und inmitten einer Blase des Individualismus. Sie sind die Menschen, die Macht haben, das postkapitalistische Projekt in die Tat umzusetzen. (Wolfgang Huber-Lang/APA, 20.5.2016)