Um Familiendramen zu vermeiden", sagt Hélène Vié, "fahren wir auf Urlaub immer irgendwohin, wo es keine Veilchen gibt." Sie rollt mit den Augen und seufzt. Denn Veilchen sind, wie eine Momentaufnahme in ihrer Boutique optisch und olfaktorisch unschwer verrät, ihr Lebensinhalt.

Im Maison de la Violette, ihrem kleinen Geschäft unter Deck eines alten Frachtkahns auf dem Canal du Midi in Toulouse, finden sich Veilchen in Zuckerln, Likör, Tee, Senf, Tee, Essig, Honig, Marmelade, Parfums, im Badeschaum oder als florale Zier auf Häferln, Waschlappen oder Kissenbezügen. Und – naturellement – trägt die zierlich-quirlige Madame eine violette Bluse und hat ihre Fingernägel gleichfarbig bepinselt.

Der Pont Neuf und für Toulouse typische Backsteinbauten spiegeln sich in der Garonne.
Foto: Atout France / Louis Frédéric

Seit mehr als 25 Jahren kümmert sie sich unermüdlich darum, die delikate Geschichte des Toulouser Veilchens über die Grenzen der Stadt hinaus weiterblühen zu lassen. Das zarte Pflänzchen gelangte Mitte des 19. Jahrhundert aus Parma in die Stadt an der Garonne, wo es dank des gemäßigten Klimas in den Wintermonaten seine betörend duftenden Blüten entfaltete und den Gemüsebauern half, die anbauarme Zeit zu überbrücken.

"La ville rose"

In den 1950er-Jahren erreichte die Veilchenproduktion hier ihren Höhepunkt. Ein strenger Winter 1956, der allen Pflänzchen den Garaus machte, sowie aufkeimende Konkurrenz durch andere Winterblüher ließen das Interesse an Viola suavis verdorren – bis 1984 ein regionales Wiederbelebungsprogramm die Veilchen aus ihrem Mauerblümchendasein weckte.

Wegen seiner Backsteinbauten wird Toulouse auch "la ville rose" genannt.
Fotos: Karin Tschentke

Wer durch die viertgrößte Stadt Frankreichs schlendert, die zu den Spielorten der Fußball-EM 2016 gehört, versteht sie rasch: Südfranzösisches Flair paart sich hier mit spanischen Akzenten, epochale Baukunst mit regionalen Genüssen, Luftfahrtbusiness mit Studentenleben. Eine geschichtsträchtige und moderne Großstadt zugleich, die zum Verweilen und Genießen einlädt, farblich eingetaucht in ein Bühnenbild aus im Laufe der Jahrhunderte leicht verblassten rosaroten, orangen- und ockerfarbenen Backsteinfassaden. Toulouse, von Dichtern liebevoll "la ville rose" genannt, und die umliegende Region Midi-Pyrénées gelten selbst unter Frankreich-Kennern noch als Terrain für Entdeckungen.

Altstadt und Airbus

Bummeln die einen in der Altstadt durch verwinkelte, mittelalterliche Gässchen, besuchen die anderen die 15 Minuten von der Stadtmitte gelegenen Airbus-380-Montagehallen. Eine Epoche reicht der anderen die Hand. Eine der größten romanischen Kirchen Europas – die kreuzförmige Basilika Saint Sernin – findet sich nur einen Steinwurf entfernt vom gotischen, dem Heiligen Thomas von Aquin geweihten Jakobiner-Konvent mit seinen beeindruckenden, 22 Meter hohen Palmettenpfeilern. Wenig weiter legt das Hôtel d'Assézat, ein prachtvolles Renaissancepalais, Zeugnis vom Reichtum der Färberwaidhändler im 15. und 16. Jahrhundert ab.

Einer der Marktstände in der Markthalle Victor Hugo in Toulouse: Ihre Wurst ist den Toulousern nicht wurscht.
Fotos: Karin Tschentke

Eine Zeit, in der "Blau" gemacht wurde – aus der Waidpflanze, deren Blätter einen blauen Farbstoff enthalten. Um ihn zu gewinnen, wurden die Blätter zu Kügelchen gedreht und getrocknet. In der okzitanischen Sprache nannte man die Pastillen "cocanhas" oder "coca". Ihr Export machte die Anbauer im "Pays de Cocagne" – die Gegend zwischen Toulouse, Albi und Castres – zu vermögenden Leuten.

Und dann, nicht zu übersehen, die Place du Capitole mit ihren Cafés, das pulsierende Zentrum der Stadt, beherrscht vom Rathaus im neoklassizistischen Stil.

Appetit aufs Schlaraffenland

Schlägt man übrigens in einem Wörterbuch nach, erhält man als Übersetzung für Pays de Cocagne: Schlaraffenland. Und damit sind wir bei einem anderen Aspekt, der Appetit auf das Herz der Midi- Pyrénées macht. In der Markthalle Victor Hugo, die in einem optisch wenig erklecklichen Parkhausbau aus den 1950er-Jahren untergebracht ist, vereinen sich dicht gedrängt die Spezialitäten der Region in den Auslagen der rund 100 Stände: Würste aus Toulouse, Porc noir de Bigorre, Foie gras oder Cassoulet (ein deftiger Eintopf aus wei-ßen Bohnen, Entenconfit, Wurst, Schweinefleisch und Nacken und Bauch vom Lamm).

Gefolgt von Blechen gefüllter Profiteroles, Fénétra, (ein Kuchen aus Mandelteig mit Baiser, Zitronenconfit und Marillenmarmeladeüberzug) und Pastis Gascon, einem feinschichtigen Backwerk mit in Armagnac gebadeten Äpfeln. Im Käsegang riehen sich unter anderem Laibe des Bleu de Causses (aus Kuhmilch hergestellter Blauschimmelkäse) oder des aus Ziegenmilch hergestellten Cabecou aneinander.

Das mittelalterliche Dorf Rocamadour mit seinen heiligen Stätten drängt sich entlang von hellen Karstfelsen.
Fotos: Karin Tschentke

Alles mindestens eine Sünde wert – die man, sofern Bedarf, mit einer Wallfahrt in den zwei Autobahnstunden nördlich von Toulouse entfernten Ursprungsort des Cabecou, Rocamadour, "abbüßen" kann. In dem am Rande des Parc Naturel Regional des Causses Du Quercy im Department Lot gelegenen Ort, hangeln sich an Karstfelsen mittelalterliche Häuser hinauf, gekrönt von einer Burg.

Auf halber Höhe befindet sich das über 216 steile Stufen erreichbare Sanctuaire, die Heilige Stadt, mit sieben Gotteshäusern. Darunter die Kapelle Notre Dame mit einer schwarzen Madonna. Sie soll vom Heiligen Amadour geschnitzt worden sein. Bei diesem, so eine der vielen Legenden, soll es sich um den Zöllner Zachäus gehandelt haben. Nach wilder Odyssee soll es ihn nach Christi Tod hierher als Eremit verschlagen haben, wo 1166 sein unverwester Leichnam in einer Grotte gefunden worden sei.

Pilgerort für Rugbyspieler

Wie im Mittelalter ist Rocamour, das auf dem Jakobsweg liegt, noch heute einer der wichtigsten Pilgerorte Frankreichs. In der kleinen Saint-Louis-Kapelle holen sich seit 2011 auch gläubige Rugbyspieler spielerischen Beistand, wie aus einem Schaukasten mit bunten Trikots hervorgeht.

Kommt die Wehrbrücke Pont Valentré in Cahors bekannt vor? Schauen Sie doch einmal auf einem 20-Euro-Schein nach.
Fotos: Karin Tschentke

Wer sich im Nationalpark Quercy im Department Lot aufhält, dem kann buchstäblich schwarz vor Augen werden. Die dünn besiedelte Karstlandschaft im Department Lot weist eine der geringsten Lichtverschmutzungen des Landes auf, in der Nacht ist es also stockdunkel. Dafür sieht man hier "den schönsten Sternenhimmel des französischen Festlands", wie seine Bewohner betonen.

Tagsüber fährt, radelt oder wandert man an einer Hügellandschaft mit von Kalksteinmauern umgrenzten Weiden und Eichenwäldern vorbei. Unter den knorrigen Bäumen schlummert die Hoffnung vieler Bauern, dass die Schwarze Trüffel unterirdisch Geflechte spinnt. Je nach Ernteertrag und Qualität sollen für die knolligen Pilze Spitzenpreise von 2.000 Euro pro Kilo erzielt werden. Kennern zufolge schmecken die Trüffel von Quercy überirdisch gut.

Im Sprachstädtchen

Wer nicht nur seinen Bauch, sondern auch seinen Geist nähren möchte, sollte einen Abstecher in das mittelalterliche Städtchen Figeac unternehmen. Im dortigen Musée Champollion kann einem ein sprachliches Licht aufgehen. Namensgeber des Museums ist der in dem Ort geborene Sprachwissenschafter und Orientalist Jean-François Champollion, der 1822 im Alter von 31 Jahren mithilfe des Steins von Rosette das wissenschaftliche Rennen um die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen machte.

Museales Kleinod in Figeac: das Museé Champollion, gewidmet dem Entzifferer der Hieroglyphen.

Die Rongorongo-Zeichen auf einem ebenfalls in diesem Haus ausgestellten Teil einer hölzernen Tafel von den Osterinseln bleiben allerdings bis heute unentziffert. Aber auch Toulouse und die gesamte Region Midi-Pyrénées bergen wohl noch unzählige ungelüftete Geheimnisse. (Karin Tzschentke, 21.5.2016)