Wien – Seit dem Sieg Norbert Hofers bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ist sie wieder ins Gerede gekommen: die Mittelschicht, genauer gesagt ihre angebliche Zersetzung. Der bisher beispiellose Erfolg eines freiheitlichen Politikers bei einer Wahl sei nur damit zu erklären, dass die FPÖ "so tief in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist wie noch nie", urteilten Politologen.

Für diese Entwicklung ist nicht allein die Skepsis vieler Menschen gegenüber Flüchtlingen verantwortlich, so die Analyse. Vielmehr werde hier die tiefe Verunsicherung von weiten Teilen der Mittelschicht deutlich, die von Reallohnverlusten und der Rekordarbeitslosigkeit im Land gebeutelt wird.

Die Mittelschicht gilt als ökonomische und politische Stütze des Staates. Sie fühlt sich zunehmend verunsichert.
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Interessant ist, dass in den Diskussionen über die Auflösung der Mitte zwar gern Bedrohungsszenarien bemüht werden, Fakten aber oft fehlen. Die Industriestaatenorganisation OECD hat vor zwei Jahren einen Bericht über die Einkommensentwicklung in Europa veröffentlicht und damit für Alarmstimmung gesorgt. Im OECD-Report hieß es, dass Haushalte mit einem mittleren Einkommen in Österreich schlechter dastehen als in den 1990er-Jahren und ihr Anteil am Gesamteinkommen deutlich zurückgegangen ist.

Diese Statistik hat nur einen Haken: Sie war falsch. Die OECD hat Zahlen verwendet, die wegen eines Bruches in der Zeitreihe nicht vergleichbar sind, wie sie zugibt. Wie geht es also der Mitte in Österreich?

Laut gängiger Definition der Wirtschaftsforscher gehören jene Haushalte zur Mittelschicht, deren verfügbares Nettoeinkommen (Lohn, Pensionen, Sozialtransfers inklusive) zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens liegt. Median bedeutet, die Hälfte verdient mehr, die Hälfte weniger.

Um zur Mitte zu gehören, muss das gewichtete Nettoeinkommen pro Kopf zwischen 1.360 und 2.900 Euro liegen. Rund 5,2 Millionen Menschen im Land leben in einem Haushalt, in dem das der Fall ist. Alle anderen sind reich oder arm.

Laut Statistik Austria sind die Haushaltseinkommen der Mittelschicht zuletzt gestiegen. Der Zuwachs lag im Mittel zwischen 2008 und 2015 (ältere Daten gibt es nicht) inflationsbereinigt bei plus sechs Prozent. Das ist kein Absturz und noch nicht einmal eine Stagnation. Ein Grund für diese Entwicklung ist, dass die Zahl der Beschäftigten in Österreich stark zugenommen hat, besonders unter Frauen. Das stützt die Haushaltseinkommen.

Gleicher Anteil am Kuchen

Nun könnte es sein, dass die Einkommen zwar nicht schrumpfen, aber die Kluft wächst, dass die Mittelschicht also einen immer kleineren Anteil vom Lohnkuchen bekommt. Doch auch das ist in Österreich nicht der Fall.

Die OECD hat nachgerechnet und ihre alten Zahlen korrigiert. Das Ergebnis wurde dem STANDARD exklusiv zur Verfügung gestellt. Egal, welche Definition man anwendet: Jener Einkommensanteil, der auf die Mitte entfällt, ist konstant (siehe Grafik).

"Die Mittelklasse in Österreich ist im internationalen Vergleich stark und relativ stabil", sagt der OECD-Experte Horacio Levy. Nach Definition der Organisation entfällt auf die Mittelschicht in Österreich in puncto Lohn mehr als in Deutschland oder Frankreich. Von einer Schrumpfung wie in den USA kann keine Rede sein.

Möglich wäre, dass sich der Absturz anderswo manifestiert. So gibt es ja nichts zu beschönigen: Die Arbeitslosigkeit in Österreich ist auf einem Rekordhoch. Mehr als 420.000 Menschen haben keinen Job. Betroffene gibt es in allen Schichten. Doch der größte Teil der Misere am Jobmarkt trifft spezifische Gruppen, vor allem die schlechter Ausgebildeten und nicht die Mittelschicht. Experten wie Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo sprechen von "ungleich verteilten Risiken". So liegt die Arbeitslosigkeit für Personen, die nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen, bei über 25 Prozent. Die Quote unter Akademikern oder Personen, die eine berufsbildende Schule abgeschlossen haben, liegt bei rund vier Prozent. Die Hälfte der Arbeitslosentage über einen Zeitraum von zehn Jahren gerechnet entfällt laut Wifo auf nur fünf Prozent der Erwerbspersonen.

Bildungsniveau steigt

Wenn es nicht Einkommen und Jobs sind, ist es die Bildung? Fehlanzeige. Der Ökonom Wilfried Altzinger von der WU Wien hat vor wenigen Monaten eine Studie auf Basis von 6.700 Befragungen erstellt. Fazit: Das Bildungsniveau in Österreich steigt ständig, Kinder sind im Regelfall besser ausgebildet als ihre Eltern.

Aus den Daten lässt sich der beklagte Abstieg nicht herauslesen. Das Gefühl der meisten Menschen in Österreich dürfte dennoch sein, dass es bergab geht. Die OECD sieht in weiten Teilen Europas einen ähnlichen Trend. Die Mitte beklagt eine Misere, die sich in den Zahlen nicht widerspiegelt. Nun will die Organisation herausfinden, was die Ursache ist. Es gibt mehrere Theorien, sagt OECD-Fachmann Levy.

In den USA ist belegt, dass die Mittelschicht schrumpft. Es könnte sein, dass die Debatte von dort nach Europa importiert wurde. Vielleicht haben auch die vielen Diskussionen über die Beschneidung der sozialen Sicherheitsnetze Spuren hinterlassen.

Möglich ist im Falle Österreichs, dass die gestiegene Arbeitslosigkeit eine allgemeine Absturzangst ausgelöst hat. Experte Mahringer sagt, dass es den Jungen heute generell schwerer fällt, in eine stabile Beschäftigung hineinzukommen. Das trifft auch die gut Ausgebildeten.

Doch auch andere Aspekte werden unter Soziologen diskutiert. So ist das Angebot an Dienstleistungen und Waren über die vergangenen Jahre gestiegen. Selbst wer mehr verdient, kann sich gemessen am Angebot oft weniger leisten. Laut dieser Theorie ist nicht etwas schlechter geworden. Vielmehr sind die Ansprüche zu sehr gestiegen. Quelle der Frustration wäre also ausgerechnet das gesellschaftliche Überangebot. (András Szigetvari, 19.5.2016)