Unter dem Titel "A Photographic Journey" zeigt das Kunsthaus Wien eine Retrospektive des Magnum-Fotografen

Wien – Aussterbende Kirchengemeinden in Nordengland und das pralle Leben an Spaniens Küsten; Supermärkte in Tokio, junge Pärchen in Finnland, langweilige Postkarten aus Deutschland und Amerika und jetzt auch noch Bälle und Kaffeehäuser in Wien: Seit mehr als 40 Jahren macht und sammelt Martin Parr Bilder. Er hat dutzende Fotobände bestückt, die zu den wichtigsten Veröffentlichungen dieses Dokumentar- und Kunstmediums zählen. Er hat ein dreibändiges Standardwerk über Fotobücher mitherausgegeben, und er hortet systematisch solche Bücher, so wie er auch Fototeller, Foto-TV-Schachterln, Buttons, collagierte Selbstporträts und sonstigen Kitsch aller Art sammelt.

Wenn man Parr fragt, was die Klammer seiner zahlreichen Tätigkeiten, im Speziellen seiner Arbeitsthemen ausmacht, sagt er, er interessiere sich einfach für vieles, vor allem für Dinge, die er nicht schon getan hat.

Das kann jeder sagen. Aber nur bei wenigen kommen dabei derart vielseitige, hellsichtige, erschreckend dekuvrierende oder zum Brüllen komische (oft beides gleichzeitig), lapidar dokumentierende oder entschieden kommentierende (wiederum oft zugleich) Bilder heraus wie bei Martin Parr. Eine umfassende Retrospektive seiner Arbeit zeigt das Kunsthaus Wien ab diesen Freitag (3. Juni).

England, Sedlescombe, 1995-1999
Foto: Martin Parr / Magnum Photos

Parr, 1953 in Epsom bei London geboren, bekam, wie häufig bei Fotografen, frühe Anregungen von seiner Familie, genauer von seinem Großvater, der eine Dunkelkammer hatte und ihm Fotobücher schenkte und eine erste Kamera.

Während seines Studiums am Manchester Polytechnic gehörte er zu einer Gruppe engagierter Dokumentaristen. Sozial war das Thema, Schwarzweiß die dementsprechende Ausdrucksform. Für ihre zugleich künstlerischen Ansprüche gab es im damaligen England wenig Spielraum – Fotografie hatte in Ausstellungssälen noch nichts verloren.

Seltsame Details am Rande

Die nächsten Jahre verbrachte Parr in ländlichen Gemeinden und hielt deren Alltag fest. Schon damals zeigte sich seine Vorliebe für seltsame Details am Rande, für Muster in jedem Sinn des Wortes, Verhaltensmuster und Gesten ebenso wie Tortenverzierungen und Tapeten. Das wurde noch deutlicher, als er Anfang der Achtzigerjahre unter dem Einfluss amerikanischer Street Photographers zur Farbe wechselte. Nun sprang, was immer ihm vors Objektiv kam, drastischer und, wenn man will, "vordergründiger" vor die Augen des Betrachters.

Mit seinen Serien über verfallende Stadtviertel, Interieurs, Fressbuden und vor allem Urlaubsszenen in Großbritannien wurde er erstmals überregional bekannt. Sein Zugang war und ist einerseits der eines Anthropologen, wie man an Buchtiteln ablesen kann: The Last Resort über ebendiese tristen Urlaubsziele, The Cost of Living über die Mittelschicht unter Thatcher oder Small World über Massentourismus.

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Im Sommer 2013 posiert Martin Parr vor eigenen Fotos in der Ausstellung "Souvenir" im Museum für Gestaltung in Zürich.
Foto: EPA/Wolfgang Bieri

In den Bildern überwiegt andererseits das Anekdotische: "Ich zeige eben die Dinge so, wie sie sind." Parr wirkt in den Szenen, die er festhält, oft zugleich distanziert und hautnah. Die Fotokuratorin Val Williams hat einmal über ihn geschrieben, dass er eigentlich ein Außenseiter sei, "der nirgendwo hingehört und kein Zugehörigkeitsgefühl hat". Darauf angesprochen, kann Parr nur zustimmen. "Sie kennt mich seit mehr als 40 Jahren und hat mich gut charakterisiert." Die manchmal verstörende Nähe zu seinen Sujets wird noch verstärkt durch einen Ringblitz, den er gerne verwendet: er macht keine Schatten und betont alle Farben noch stärker, insbesondere die fleischigen und roten Töne.

Die schrillsten seiner Bilder erhielten naturgemäß die meiste Aufmerksamkeit, mit ihnen illustriert man bis heute gerne Exzesse und Geschmacklosigkeiten. Vielleicht war das ein Grund, warum seine Aufnahme in die Agentur Magnum 1994 nicht glatt über die Bühne ging. Sie sind aber nur ein kleiner Teil seines Oeuvres. Er kann sich für Haartrachten ebenso begeistern wie für Skiparadiese oder für die vielen Schilder eines Ortes namens Boring, Oregon. Und, apropos, Langweilige Postkarten sammelt er ebenfalls mit Leidenschaft und macht sehr überzeugende Bildbände aus ihnen (wie alle anderen vom Phaidon Verlag sorgfältig produziert).

"Ich mag ja Klischees"

Im letzten Sommer und in vergangenen Winter war er auf Einladung des Kunsthauses zum Fotografieren in Wien. "Ich wollte den Tourismus und die Donau sehen, und die vielen Bälle haben mich interessiert." Er wurde nicht enttäuscht. "Ich mag ja Klischees, und Wien dürfte eine der klischeehaftesten Städte überhaupt sein. Ich meine, die Leute lieben offenbar wirklich Kuchen und Kaffeehäuser, und ich konnte nicht glauben, wie gerne sie auf Bälle gehen." Hier scheint ihm eine recht altmodische Gesellschaft zu Hause zu sein, auch die Bälle seien ja konservativ, "bis auf den schwulen Rosenball, der ist wohl ein gutes Gegenmittel gegen den Opernball".

BBC-Dokumentation (2003): "The World According To Martin Parr"
GermanyYear90Nine

"Cakes & Balls" ist eines der Kapitel der Parr-Schau (und erscheint bald als Fotobuch ). Die anderen umfassen beispielhaft sein gesamtes Schaffen, von seiner Abschlussarbeit – Fotos in Fotos, also bereits eine Metaebene, auf die er immer wieder zurückkommen wird – bis zu neuesten Arbeiten, für die er sich als unauffälliger Tourist Reisegruppen anschließt, aber dann vom Hauptpfad abweicht: "Mich interessieren Supermärkte mehr als Sehenswürdigkeiten." Was ihnen in der Ausstellung gemeinsam ist, charakterisiert die Kunsthaus-Kuratorin Verena Kaspar-Eisert als "Verführung mit Farbe und Humor".

Parr, ein solide aussehender Bürger in jeder Umgebung, ist mit einfacher Ausrüstung unterwegs, was seine fotografischen Beutezüge erleichtert. Nur für ein frühes Fotobuch, Bad Weather in Irland, hat er sich dem Anlass entsprechend bald eine Unterwasserkamera gekauft. "Dabei kann ich nicht einmal schwimmen!" (Michael Freund, 31.5.2016)

Kunsthaus Wien, 3. Juni bis 2. November (Eröffnung 2. 6., 19 Uhr)

In der Anzenberger Gallery (die das Buch "Cakes & Balls" herausgeben) werden parallel frühe Schwarzweißarbeiten von Parr zu sehen sein (3. Juni, 16 Uhr: Tea with Martin Parr).

Belgium. Knokke le Zoute. 2000

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

Ball der Wiener Kaffeesieder, Vienna, Austria, 2016

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

GB, England, New Brighton, 1985

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

New Brighton, England, GB, 1983-1985

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

G.B England New Brighton, 1985

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

Switzerland. St. Moritz polo world cup on snow.

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

Weymouth, England, 1995-1999

Foto: Martin Parr / Magnum Photos

Rudolf and Traude Strobl, Vienna, Austria, 2015

Foto: Martin Parr / Magnum Photos