Eines der Erfolgsgeheimnisse von Snapchat sind die unzähligen Möglichkeiten der Bearbeitung von Bildern und Videos. Seit vergangenem Herbst können sogenannte Lenses verwendet werden. Dafür werden erst die Selfie-Kamera und dann die Gesichtserkennung aktiviert. Zur Auswahl stehen jede Menge Motive, vom Hasenohr bis zur herausgestreckten Zunge. Hier die Mitarbeiter dieses Heftes.

Foto: Magda Rawicka

Richard Gutjahr ist völlig aus dem Häuschen. Dabei ist der Medienjournalist mit allen Wassern gewaschen. Er arbeitet seit zwei Jahrzehnten als Journalist, fürs Fernsehen und für Zeitungen, seit einigen Jahren bloggt er. Jetzt aber hat er eine Plattform entdeckt, die ihn vom Hocker haut. Seit einem Jahr ist Gutjahr auf Snapchat aktiv, seine fiebrige Begeisterung scheint ungebrochen. Morgens schickt Gutjahr ein Bild von seinem Wecker raus. Wenn er vom Bahnhof zum Flughafen unterwegs ist, schaltet der Journalist die Selfie-Funktion seines Handys ein, richtet die Kamera auf sich und erzählt, was ihm gerade so durch den Kopf geht. Und wenn er ein bisschen mehr Zeit hat, verziert er seine Videos mit Emojis oder krakeligen Illustrationen.

Damit ist Gutjahr nicht allein. Rund 100 Millionen Nutzer soll die App weltweit bereits haben, auf der Berliner Netzkonferenz Republica standen die Besucher Schlange, sobald Snapchat bei einer Veranstaltung Thema war. Snapchat ist heute mehr als der Messenger-Dienst, über den Jugendliche sich in den Anfängen 2011 Nacktbilder verschickten, weil diese sich sofort auflösten.

Bewegtbild

Der Erfolg von Snapchat ist der Suche nach neuen Formen des Bewegtbildes geschuldet. "Alle Plattformen setzen sich gerade mit Storytelling und Videotools auseinander: Twitter hat Vine und Periscope gelauncht, Facebook hat seine Live-Video-Funktion freigegeben", erklärt Kommunikationsexpertin Judith Denkmayr. "Bei Snapchat drücke ich maximal zehn Sekunden lang auf den Aufnahme-Button, verziere meinen Beitrag mit Emojis oder kurzen Kommentaren. Es geht nicht wie bei Instagram darum, dass das Endergebnis hübsch aussieht." Es gehe darum, authentisch, echt und lustig zu sein.


Bild nicht mehr verfügbar.

Die Mitarbeiter der RONDO-Digital-Ausgabe haben sich hinter Snapchat-Filtern versteckt
Foto: Magda Rawicka/ Snapchat Filter

"Snapchat ist ein Aufruf zur Authentizität", bestätigt die deutsche Medienpsychologin Sabine Trepte. "Die Leute wollen sich auch mal unattraktiv in der Jogginghose auf dem Sofa zeigen." Auf Snapchat schwenken Handy-Kameras suchend umher, es gibt keine professionelle Beleuchtung, keine Stative. Nicht umsonst gilt Snapchat als die frechere, die witzigere kleine Schwester von Youtube. Ideal für die Zeit, die zwischen dem Instagrammen, Twittern und Facebooken, in den Wartezeiten in der U-Bahn, während des Schlangestehens auf der Post und der Rolltreppenfahrten zwischendurch bleibt. Die App bedient den nervös zuckenden Zeitgeist. Sie ist maßgeschneidert für eine Aufmerksamkeitsspanne, die bei vielen über wenige Sekunden nicht hinausreicht.

Bei Snapchat ist jedenfalls Aufbruchsstimmung angesagt, und ein Medienprofi wie Gutjahr will mit dabei sein: "Es wird experimentiert, ausprobiert, auch Fehler gemacht. Das hat etwas herrlich Kreatives, das habe ich seit den Anfängen von Twitter nicht mehr erlebt." Was Snapchat attraktiv macht? Die Verknappung und die Vergänglichkeit der Inhalte. Das starre Korsett von Snapchat stimuliert die Nutzer und fordert sie heraus. Maximal zehn Sekunden lang sind Videos und Bilder zu sehen, die hintereinander gereihten Videos und Bilder sind nur 24 Stunden abrufbar.

Intensive Bindung

Gutjahr zieht deshalb Snapchat immer öfter Facebook und Twitter vor. Noch hält sich die Anzahl der Follower in Grenzen. Bis zu 3.000 Menschen schauen sich seine Videos und Bilder an, Peanuts im Vergleich zu seinen 78.600 Followern auf Twitter. Auf die Masse komme es bei Snapchat gar nicht so sehr an, glaubt Gutjahr mittlerweile. Eine so intensive Bindung zwischen ihm und seinen Abonnenten sei ihm, dem alten Medienhasen, noch nicht untergekommen.

Sender und Empfänger stehen auf Snapchat in unmittelbarem Austausch. Auf Gutjahrs Snaps antworten seine Abonnenten mit persönlichen Nachrichten: Auf keinen Zeitungsartikel und keinen Fernsehbeitrag habe er je so viele Reaktionen bekommen. Das hat sicherlich auch mit dem Alter der Nutzer von Snapchat zu tun, das sich zwischen 13 und 34 Jahren bewegt. Der Journalist, Jahrgang 1973, hat sich über über Snapchat völlig neue Zielgruppen erschlossen. Gutjahrs digitaler Aktivismus hat ungewohnte Konsequenzen. Wenn er in der Öffentlichkeit unterwegs ist, "laufen Leute auf mich zu, umarmen mich, wollen Selfies, das ganze Popstar-Ding. Die Leute denken, sie kennen mich."

Kein Wunder, der Medienmacher lässt seine Abonnenten auch mal zu Hause in den Kochtopf blicken oder holt sie zum Serienschauen mit aufs Sofa. Zu dieser Offenheit verführt die Vergänglichkeit der Videos und Bilder in der Social App. "Man lässt die Leute ein Stück näher ran." Für Sabine Trepte, die seit zehn Jahren zu Privatsphäre und Selbstoffenbarung im Social Web forscht, ist Snapchat eine neue Entwicklung in der Kommunikation. Das Bedrohliche von Social-Media-Kanälen wie Facebook, nämlich dass das eine Party-Foto für immer im Netz bleibt, fehle bei Snapchat. "Replizierbarkeit, Kopierbarkeit und Editierbarkeit scheinen bei Snapchat aufgehoben." Trepte rät aber zu Vorsicht: "Die große Kritik an Snapchat ist, dass Bilder leicht aufgespürt werden können."

Das Versprechen von Intimität macht den Reiz von Snapchat aus, auch der Medienmann Gutjahr ist ihr erlegen. Er ist davon überzeugt, dass die Social App die "Daily Soap des 21. Jahrhunderts" ist. "Ich tauche nicht nur ins Leben mir mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten ein, ich kann mir den Plot selbst zusammenstellen. Ich bestimme, wen ich wann und in welchem Zeitintervall sehen will." Mittlerweile gibt es wie auf anderen Social-Media-Kanälen echte Stars. Nicht selten sind das Leute, die bereits in anderen sozialen Netzwerken wie Youtube oder Instagram bekannt wurden.

Überdruss

So begeisterungsfähig wie der angehende Snapchat-Star Gutjahr sind allerdings nicht alle. Viele sind genervt angesichts einer weiteren digitalen Baustelle, die es zu bespielen gilt. Für Leute über dreißig scheint es zur Attitüde geworden zu sein, gegenüber Snapchat eine gewisse Ignoranz an den Tag zu legen. Duygu Gezen, die erste Social-Media-Volontärin der ARD, twitterte zuletzt während der Republica: "'Ich bin zu alt für Snapchat' ist das neue 'Ich hab keinen Fernseher'."

Für Leute wie diese hat Youtuber und Social-Media-Experte Philipp Steuer Abhilfe geschaffen. Der 25-Jährige hat auf Youtube knapp 170.000 Follower, im letzten Jahr hat er ein Buch über Snapchat (Snap me if you can) geschrieben. Darin räumt er ein, dass die Handhabe der Social App eher verwirrend als einleuchtend sei. Mittlerweile wurde "das Buch für alle, die Snapchat endlich verstehen wollen", mehr als 10.000-mal als PDF heruntergeladen. Ein Download, der sich lohnen könnte. (Anne Feldkamp, Rondo Digital, 19.5.2016)