Entwickelt sich Russland-Bashing zur neuen Sportart, oder sind die Zustände wirklich so schlimm? Die Vorwürfe, die Grigori Rodtschenkow, bis November 2015 noch Chef des Moskauer Antidopinglabors, in der New York Times erhebt, sind jedenfalls an Unglaublichkeit kaum zu überbieten: Demnach gingen bei den Winterspielen in Sotschi 2014 dutzende russischer Athleten gedopt an den Start, 15 von ihnen gewannen eine Medaille.
Rodtschenkows Labor habe sich unter Aufsicht des Geheimdienstes FSB um die Verschleierung des staatlichen Dopingsystems gekümmert, indem nachts heimlich Urinproben durch ein Loch in der Wand gegen saubere, aber bereits mehrere Monate alte Proben ausgetauscht worden seien. Es sei gar eine Methode gefunden worden, versiegelte Röhrchen für den Betrug unbemerkt zu öffnen und wieder zu verschließen.
Rodtschenkow rühmte sich zugleich als Erfinder mehrerer Steroidcocktails, die der Chemiker mit Alkohol gemischt haben will, um die Wirkung zu beschleunigen. Immerhin: Männer bekamen statt Wodka Whisky, Frauen Martini. Jedes Milligramm des Cocktails wurde mit einem Milliliter Alkohol verdünnt, behauptete Rodtschenkow, der sich zugleich über die Moral der Sportler mokierte. Diese seien wie kleine Kinder. "Alles, was du ihnen gibst, nehmen sie in den Mund."
Zwei der von Rodtschenkow namentlich Beschuldigten, der Bob-Doppelolympiasieger Alexander Subkow und der Langlaufgewinner über 50 Kilometer, Alexander Legkow, haben die Anschuldigungen bereits als Verleumdung zurückgewiesen. "Ich habe an fünf Olympischen Spielen teilgenommen und dreimal Medaillen gewonnen. Danach habe ich jedes Mal die Dopingkontrolle durchlaufen, und nun versucht plötzlich jemand, mir irgendetwas unterzuschieben", sagte Subkow der Zeitung Sport Express. Legkow antwortete auf die Vorwürfe mit Ironie: Er trinke keinen Whisky – schon gar nicht vor einem Wettkampf.
Auch Russlands Sportminister Witali Mutko dementierte den Vorwurf des systematischen Dopings. Er glaube an die Sauberkeit der russischen Sportler und sprach von einer Schmutzkampagne gegen Russland. Gegen ähnlich geartete Vorwürfe des ehemaligen Mitarbeiters der russischen Antidopingbehörde Rusada Witali Stepanow hatte Mutko rechtliche Schritte angekündigt.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist brisant, da der internationale Leichtathletikverband (IAAF) Mitte Juni in Wien über die Zulassung des vorläufig suspendierten Teams der Russen bei Olympia in Rio de Janeiro entscheiden muss. Craig Reedie, der Chef der Anti-Doping-Agentur (Wada), bewertete die Enthüllungen denn auch als "wenig gute Nachricht für Russland". Wiewohl es sich "noch um unbewiesene Vorwürfe" handle, fordert Reedie schnelle Untersuchungen.
Pikanterweise wurden die Leichtathleten nach einem Skandal um das Moskauer Antidopinglabor gesperrt, dem auch Rodtschenkow zum Opfer fiel. Nachdem ihm von der Wada vorgeworfen worden war, 1417 Dopingproben vernichtet zu haben, wurde der nach Sotschi noch von Präsident Wladimir Putin ausgezeichnete Rodtschenkow im November 2015 entlassen. Wenige Monate darauf flüchtete er in die USA – angeblich aus Angst um sein Leben. Sowohl der ehemalige Geschäftsführer der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada), Nikita Kamajew, als auch dessen Vorgänger Wjatscheslaw Sinew starben danach überraschend. (André Ballin aus Moskau, 13.5. 2016)