Keiner jongliert so keck mit Gerade, Kreis, Quadrat und Neon wie er, dachte man sich jedesmal, wenn man in einer Austellung zur konkreten Kunst, in der der Franzose freilich fast nie fehlte, vor François Morellets minimalistischen Arbeiten stand. Er trieb so gewitzte Spiele mit dem Eckigen der Geometrie, dass man darüber nicht nur deren Nüchternheit vergaß.
"Ich meide das Transzendentale und Seriöse. Mir scheinen Humor, Ironie, Spott und Frivolität die notwendige Würze zu sein, um Quadrate, Systeme und alles Übrige verdaulich zu machen", sagte er. Man verdrängte auch gern den Umstand, dass Morellet, 1926 in Cholet geboren, trotz der Vitalität seines Schaffens kein Jungspund mehr war. In der Nacht auf Mittwoch, wenige Tagen nach seinen 90. Geburtstag am 30. April, ist der Meister der geometrischen Abstraktion gestorben.
François Morellets künstlerische Laufbahn durchkreuzt zunächst die Führung der elterlichen Kinderwagenfabrik, die er von 1948 bis zum Jahr 1975 leiten sollte. Aber als Autodidakt beginnt er bereits in den 1950er-Jahren zu malen. Für sein späteres Werk prägend ist allerdings seine Begegnung mit dem Schweizer Vertreter des Konkreten, Max Bill. Dem Eliminieren von expressiver Geste und individueller Handschrift in der geometrischen Abstraktion entsprechend, beginnt Morellet also mit der Darstellung mathematischer Regeln.
"Ich finde, dass der Verstand und der Geist eines systematischen Forschens Intention und individuellen Ausdruck ersetzen müssen", formulierte Morellet 1961 sehr programmatisch. Eine Strenge, die er selbst – und ab 1975 immer intensiver – mit den Regeln durchkreuzenden Mitteln des Zufalls, des Humors und des Wortspiels auflösen würde. "Pégatif et Nositif" (2008) heißt etwa eine an Ernst Jandls "rinks und lechts" gemahnende Neon-Arbeit.
Oft ironisch, oft poetisch
Rasch erweitert Morellet sein malerisches Œuvre um die dritte Dimension, um Bewegung und Licht, arbeitete als Bildhauer, schuf kinetische Objekte und Lichtkunstwerke; er war einer der ersten Künstler, die mit Neon arbeiteten und prägte daher viele jüngere Lichtbildner. 1960 hatte er die Groupe de Recherche d'Art Visuel (GRAV) mitbegründet; in deren Zentrum stand das Interesse für Licht, Bewegung und die Interaktion mit dem Betrachter.
Bei Morellet führten solche Ideen zu ebenso dynamischen wie gleichzeitig zauberhaften und obendrein mit Understatement punktenden Arbeiten wie "Fil avec mouvement ondulatoire" – deutsch: "Kordel mit wellenförmiger Bewegung" –, einer kinetischen Skulptur von 1965. Ausgeschaltet ist sie so unauffällig wie eine Klingelschnur, ein unschuldiger Strich, angeschaltet fängt eine mit Bleiplättchen beschwerte Leine beschwingt zu tanzen an und beansprucht, Sinuskurven beschreibend, ihren Raum.
Betörend auch seine Lichtmalereien: mit weißen Neonröhren "schraffierte" er etwa in "4 panneaux avec 4 rythmes d'éclairage interférents" (1963) variierend vier quadratische Felder, schuf Labyrinthe ("Répartition N°1", 2002) oder ließ die leuchtenden Röhren, mit denen er wie mit Mikadostäben spielte, wie Linien aus dem Geviert des Bildfeldes purzeln. Auch die Kabel, die seine oft ironischen, oft poetischen Neon-Arbeiten elektrifizieren, versteckte er nicht. Im Gegenteil: er integrierte sie als formbildende Elemente. Auch das macht den Charme seines Werkes aus, das oft auch in die Nähe des Dadaismus gerückt wurde.
Zum 80. Geburtstag hatten Morellet, der im Ausland bekannter war als in Frankreich selbst, das Musée d'Orsay und auch das Musée d'Art Moderne in Paris große Retrospektiven ausgerichet, beim 85er folgte eine Personale im Centre Georges Pompidou. Jetzt zum Neunzigsten waren es eher die Galerien, darunter sein Salzburger Galerist Nikolaus Ruzicska, die den mehrfachen Biennale-Venedig- und Documenta-Teilnehmer hochleben ließen. Mit Arbeiten, die an einen sympathischen Schalk erinnern, der nun fehlt. (Anne Katrin Feßler, 12.5.2016)