Als Abba 1974 in Brighton gewannen und danach eine außergewöhnliche internationale Karriere starteten, sollte das die schwedische Popindustrie gehörig verändern. Bis heute. Aus einem musikalischen Entwicklungsland wurde ein Popland, das eine richtige Fließbandindustrie an Komponisten und Acts in Gang brachte und das zeitgenössische Musikschaffen auch staatlich förderte. Der Start als Gastgeber des europäischen Gesangswettbewerbs verlief allerdings alles andere als reibungslos.

Die malerische Altstadt (Gamla stan) Stockholms, die wie die gesamte Gastgeberstadt direkten Zugang zum Wasser hat.
Foto: Alkis Vlassakakis

Konfliktreiches 1975

Als Stätte des ersten Song Contest in Stockholm wurde das 1970 im Stadtteil Älsvjö gebaute Messegelände ausgewählt. Für einen reibungslosen Ablauf gab es aber zu viele Konflikte aller Art. Einer war ein innerdeutscher: Die Schlagerfans waren empört, dass die Bluessängerin Joy Fleming den Vorentscheid gewonnen hatte, und forderten eine Änderung, da aus ihrer Sicht der unterlegene Jürgen Marcus mit "Ein Lied zieht in die Welt hinaus" bessere Chancen hatte. Ein Fan des Sängers sprach sogar eine Morddrohung gegen Fleming aus, weshalb die deutsche Teilnehmerin überall von Personenschützern begleitet werden musste.

Konflikt Nummer zwei betraf Zypern, denn zum ersten Mal durfte 1975 die Türkei mitmachen, was Griechenland dazu veranlasste, den Song Contest zu verlassen. Der Zypern-Konflikt war noch brandheiß. Konflikt Nummer drei war der Höhepunkt der PLO-Terrorwelle der 70er-Jahre. Ein Terroranschlag auf die israelische Delegation galt damals wie heute als eine der größten Gefahren. Und zu allem Überdruss gab es noch einen kulturellen innerschwedischen Konflikt: Zahlreiche Musiker organisierten ein alternatives Musikfestival und protestierten damit gegen den "künstlichen" Song Contest.

Fans aus aller Welt vor dem ersten Semifinale bei der Globen Arena in Stockholm – wie der junge Mann aus dem Libanon vorne links, der sich mit seinen vielen Österreich-Fähnchen als Fan von Zoës Beitrag outet.
Foto: Alkis Vlassakakis

Der Bewerb am 22. März sollte dann aber reibungslos über die Bühne gehen, Karin Falck moderierte, und die Niederlande gewannen mit "Ding-a-dong" von Teach-In (mit der steirischen Sängerin Getty Kaspers). Österreich nahm aus Desinteresse nicht teil und sollte erst ein Jahr später zurückkehren. Die größte und nachhaltigste Neuerung des ESC 1975 sollte aber die Punktevergabe sein: Zum ersten Mal vergaben einzelne Länderjurys die Punkte 12, 10 sowie 8 bis 1. Das wird erst 42 Jahre später, also 2016, wieder geändert werden – ausgerechnet in Stockholm.

Die Sieger 1975 aus den Niederlanden mit einer steirischen Sängerin: Teach-In.
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Zuschauerrekord 1985

Nach dem Sieg der Herreys mit "Diggi-Loo Diggi-Ley" in Luxemburg fand genau zehn Jahre nach Stockholm der Song Contest wieder in Schweden statt. Dieses Mal wurde Göteborg als Gastgeberstadt ausgewählt, das vor allem mit einem neuen Rekord auftrumpfen konnte: Das Scandinavium bot 12.000 Zuschauern Platz. So viele waren noch nie live dabei gewesen. Somit kann auch dieser Song Contest als eine Neuerung angesehen werden. Der Bewerb sollte zwar auch noch in den Jahren danach immer wieder im kleineren, theaterähnlichen Ambiente stattfinden, aber die Möglichkeit, das anders zu machen, wurde hier deutlich.

Am meisten in Erinnerung blieb der geplante Modeunfall der Moderatorin (und Teilnehmerin 1966) Lill Lindfors. Sie stolperte auf die Bühne, verlor den Rock, konnte dann aber das Oberteil wie durch Zauberhand in ein Abendkleid ändern.

1985 war auch der erste Song Contest ohne Beitrag aus den Niederlanden: Da der 4. Mai als Termin ausgewählt wurde, ein Tag, an dem in den Niederlanden traditionell der Toten des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, nahm man nicht teil. Gewinnen sollte in Göteborg ein Land, das durch schlechtes Abschneiden eher zweifelhafte Song-Contest-Berühmtheit erhielt: Norwegens Bobbysocks standen am Ende mit "La det swinge" als Siegerinnen fest. Gary Lux erreichte mit "Kinder dieser Welt" den respektablen achten Platz.

Lill Lindfors mit einem entzückenden Trickkleid.
Schlager Land

Jugoslawischer Abgesang 1992

Ob der Song Contest 1992 wirklich in Schweden hätte stattfinden sollen, ist unter Fans immer noch ein heißdiskutiertes Thema. Denn 1991 gewann Carola mit "Fångad av en stormvind" punktegleich vor Frankreichs Amina mit "C'est le dernier qui a parlé". Viele (darunter der Autor dieser Zeilen) hätten lieber einen Sieg Frankreichs gesehen. Sei es drum, das Reglement und mehr Zehnpunkter hatten entschieden, und so fand der Bewerb dieses Mal in der südschwedischen Stadt Malmö statt.

Als Austragungsstätte wurde das Isstadion, die Eissporthalle der Stadt, ausgewählt. Damit hatte der Bewerb deutlich weniger Zuschauer als 1985, denn dort hatten nur etwas mehr als 5.000 Menschen Platz. Die größten Turbulenzen im Vorfeld gab es in der Schweiz. Dort gewann Géraldine Olivier mit "Soleil, Soleil", die das Lied beim deutschsprachigen Sender einreichte. Sie vergaß aber zu erwähnen, dass das Lied vom Sender der Romandie in einer französischsprachigen Version bereits abgelehnt wurde. Daher durfte die Zweitplatzierte der Vorausscheidung, Daisy Auvray, mit "Mister Music Man" nach Malmö fahren.

Die größte Enttäuschung erlebten ausgerechnet die Schweden, die damals noch nicht ahnen konnten, dass sich ihr Beitrag nachhaltig auszahlen würde. Christer Björkman wurde nämlich nur Vorletzter – eine Schmach! Der Mann sollte aber ab 2002 Produzent des Melodifestivalen werden und als Delegationsleiter der Schweden zwei Siege einheimsen.

Politisch war der Bewerb vom Zerfall Jugoslawiens geprägt, der in einen fürchterlichen Krieg mündete. Nur noch ein letzter Rest Jugoslawiens, bestehend aus Serbien und Montenegro, trat in Malmö an. Es sollte das letzte Mal sein, dass ein Teilnehmer unter diesem Namen Jugoslawien repräsentierte. Der Titel des Beitrags klang aber durchaus versöhnlich: "Ich küsse dich mit Liedern" hieß das Lied übersetzt.

Johnny Logan gewann den Bewerb 1992 zum dritten Mal, diesmal als Komponist. "Why Me" von Linda Martin räumte ab, Österreich erreichte mit "Zusammen geh'n", gesungen von Tony Wegas, den zehnten Platz. Insgeheim hatte sich der ORF wohl mehr erhofft, galt der von Dieter Bohlen komponierte Song im Vorfeld doch durchaus als Mitfavorit.

Galt als Mitfavorit, wurde aber Zehnter: Tony Wegas.
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Millenniumscontest 2000

Die Globen Arena in Stockholm wurde 1989 als größtes sphärisches Gebäude der Welt errichtet und sollte 2000 zum ersten Mal den Song Contest beherbergen und somit für ein damals enorm großes Publikum sorgen, das krass im Gegensatz zu den bescheidenen Verhältnissen des Jahres davor in Jerusalem stand. Dort gewann 1999 Charlotte Nilsson mit "Take Me To Your Heaven". Die Arena, die aussieht wie ein Riesenplanetarium, war danach jahrelang auch Austragungsstätte der Finale des Melodifestivalen und richtet 2016 erneut den Song Contest aus.

Das Telefonvoting setzte sich schon durch und war mittlerweile mehr Regel als Ausnahme. Eine fürchterliche Katastrophe im niederländischen Enschede sollte an diesem Abend allerdings den Bewerb in den Schatten stellen. Eine Feuerwerksfabrik explodierte, 23 Menschen starben, und 947 Personen wurden verletzt. Der Sender NOS unterbrach daher die Ausstrahlung des Bewerbs und gab mit ernster Miene eine Jurywertung durch.

Die größte Überraschung lieferte ein Debütant. Lettland schickte eine erfrischende Popgruppe, die sehr nach Britpop klang. Brainstorm wurden mit "My Star" Dritter. Die großen Sieger des Abends waren die Olsen Brothers, die mit "Fly On The Wings Of Love" haushoch den zweiten dänischen Sieg sichern konnten und einen Welthit landeten. Österreich wiederum stand 2000 im Brennpunkt der internationalen Aufmerksamkeit, da die FPÖ in die Regierung kam. Wohl nicht zufällig schickte der ORF daher die Multikultigruppe The Rounder Girls nach Stockholm, die allerdings unter Wert geschlagen und nur 14. wurde. Das führte aufgrund des damals gültigen "Fünf-Jahre-Punktedurchschnitts" zu einer Pause Österreichs im Jahr darauf.

Das waren die Beiträge 2000 im Schnelldurchlauf.
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Downsizing in Malmö 2013

Die Bewerbe in den Jahren zuvor zeichneten sich vor allem durch Größe, gepaart mit Gigantomanie, aus. Das führte dazu, dass viele Delegationen geradezu Angst hatten, sie könnten den Song Contest gewinnen, da die Ausrichtung immer teurer wurde – besonders jene des Song Contest 2012 in Baku, dessen Gesamtkosten nie veröffentlicht wurden, der aber nach Schätzungen des East-West Research Center in Baku 575 Millionen Euro gekostet haben dürfte. Die Schweden machten nach dem Sieg Loreens etwas sehr Kluges: Sie machten den Bewerb wieder kleiner.

In der Malmö Arena hatten etwa 15.000 Menschen Platz – auch deshalb, weil etwas Neues eingeführt wurde: Stehplätze! Das sollte in den Jahren danach Standard werden und zu mehr Konzertatmosphäre und daher wesentlich stimmungsvolleren TV-Bildern führen. Und noch etwas war neu: Nicht mehr eine Auslosung bestimmte die Reihenfolge der Songs, sondern der Sender selbst durfte das dramaturgisch festlegen.

Das erste Mal seit 1995 stand eine Solomoderatorin auf der Bühne, und Petra Mede machte dies mit Bravour. Dass jeder Song Contest ein eigenes Motto hat, war 2013 bereits üblich. "We are one", hieß es in Malmö, und Schmetterlinge waren das Leitmotiv.

Turbulenzen gab es auch in einigen Teilnehmerländern: Aserbaidschan wurde von Undercover-Journalisten beschuldigt, Stimmen zu kaufen, die Schweizer Heilsarmee durfte nicht unter diesem Namen antreten, Deutschlands Cascada musste sich mit Plagiatsvorwürfen herumschlagen, Mazedonien musste den Song austauschen, da die Griechen gegen den Titel "Imperija" protestierten, Bulgarien hatte Copyright-Schwierigkeiten und tauschte den Titel aus ebenso wie Weißrussland.

Für Österreich sollte das Abenteuer in Schweden nicht sehr erfolgreich enden. Natália Kelly landete mit "Shine" nur auf dem 14. Platz ihres Semifinales und verpasste das Finale. Gewinnen sollte 2013 wieder Dänemark. Dieses Mal war es eine Sängerin namens Emmelie de Forest. Ob dänische Siege auf schwedischem Boden eine Dreierserie werden? 2016 ist eher nicht davon auszugehen.

Moderatorin Petra Mede mit einem Song über Schweden 2013. Sie moderiert auch den ESC 2016, diesmal zusammen mit Måns Zelmerlöw.
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(Marco Schreuder, 11.5.2016)