Der Tscheche Jaroslav Rudiš erstattet einem Schläger die Würde zurück. Sein Roman "Nationalstraße" hilft, das krude Denken der Modernisierungsverlierer zu verstehen.

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Wien – Die tschechische Wildnis beginnt gleich hinter Prag. "Vandam" heißt der Held in Jaroslav Rudišs Kurzroman Nationalstraße, so wie ein belgischer Kraftsportler und Prügelfilmheld (Jean-Claude Van Damme). Der Prager Vandam ist Dachlackierer. Seine großzügig bemessene Freizeit versüßt er sich mit Liegestützen – zweihundert am Stück – und Rumpfbeugen. Rund um den Plattenbau, den er bewohnt, rauschen die Wälder. Immer wieder meint Vandam, die "alten Krieger" zu hören, die aus dem Baumdickicht gekrochen kommen.

In Vandams Kopf spuken zwei fixe Ideen herum. Die eine ist geografisch wie historisch zweifelhaft. Er selbst sei der einzige Römer, der dem Gemetzel im Teutoburger Wald entkommen ist. Im Jahre neun nach Christus machten die Legionen des Varus tödliche Bekanntschaft mit den Streitäxten der Germanen. Das stolze Rom erlebte in den unwegsamen Wäldern ein wahres Desaster, Varus' Soldaten wurden bis auf den vorletzten Mann massakriert. Kaiser Augustus soll geweint haben.

Die andere Zwangsvorstellung Vandams ist gegenwartsnäher. Indem er am 17. November 1989 auf der Prager Nationalstraße loszuprügeln begann, soll er geholfen haben, die Samtene Revolution loszutreten. Die eigentliche Pointe verrät Rudiš mit deutlicher Verzögerung. Sein monologisierender Held stand damals auf der Seite der Polizei. Gewalt ist für Vandam, den geschassten Ordnungshüter, der universelle Schlüssel, um sich in einer Welt, die (nicht mehr) die seine ist, zu behaupten. Rudiš macht aus dem Helden einen postkommunistischen Schwejk. Dessen endlose, niemals wehleidige Suada über die Kaltherzigkeit der Welt nimmt den Leser sofort gefangen.

Vandams Ansprechpartner ist der eigene Sohn. Der 17-Jährige hält von der zwanghaften Dauermobilisierung im Kopf seines Erzeugers nicht das Geringste. Papa erzählt seiner Stammwirtin, in deren Bett er seine verfrostete Seele auftaut, resigniert vom Spross: "Irre schnell SMS schreiben, das kann er." Und: "Ich erzähl ihm von der Schlacht vom Weißen Berg. Und er guckt sie im Handy nach. Dafür vergisst er sie auch sofort. Ich lese lieber in Büchern darüber. Aber er sagt, Paps, du bist tot, du bist analog."

Denken in Analogien

Wer in Analogien zu denken versteht, wird in der Figur des Vandam mehr sehen als nur einen kleinen, mitteleuropäischen Moderneverlierer mit allerdings deutlich ausgeprägtem Hang zur Soziopathie. Bis zu seinem "tatsächlichen" Tod ist Vandam nämlich springlebendig. Rückhalt findet der Krieger am ehesten in seiner Stammkneipe.

Gegen Eindringlinge, die dort auftrumpfen, schießt er ohne Vorwarnung die Fäuste ab. Blut, das aus einer gebrochenen Nase fließt, das weiß Vandam genau, schmeckt nach "salziger Marmelade". Der Plattenbau in der Prager Nordstadt, das ist die "Wagenburg der Hussiten". Und Jaroslav Rudiš gelingt mit wenigen, eindringlichen Strichen die Skizze eines Städtebewohners, der davon träumt, sich mit einsamen Wölfen im Schmutz zwischen den Mietskasernen zu wälzen.

Es ist so: Vandams Einsamkeit rührt ans Herz. Schlagartig erhellt der tschechische Autor die Gemütslage einer Gesellschaft, die unzählige ihrer Mitglieder schlecht vorbereitet in die Isolation entlässt. Vandam ist das Produkt des Neoliberalismus. Insgeheim malt er sich aus, das Dachlackieren sein zu lassen und eine "Muckibude" aufzusperren. Prügeleien sind für ihn das Mittel, dem Dasein einen Sinn abzugewinnen. Gewalt ist in diesem Zusammenhang ein geselliger Akt.

Mit seiner Studie des autoritären Charakters liefert der Prager Autor (43) eine wichtige Verständnishilfe. Die Theater müssten sich mit einem wahren Heißhunger auf den Monologtext Nationalstraße stürzen. Der vorletzte Satz – Vandam liegt totgeprügelt im Sumpf – kommt einer Selbstdemontage gleich. Er lautet: "Adolf Hitler hat mir das Leben nicht gerettet." Aber auch Kaiser Augustus hätte ihm wohl nicht helfen können. (Ronald Pohl, 10.5.2016)