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Impulsive Suche nach dem Werkkern: Andris Nelsons.

Foto: APA/EPA/JAN WOITAS

Wien – Dirigieren – ein seltsamer Vorgang, diese Empfindung sucht auch Andris Nelsons bisweilen heim: "Eine mystische Angelegenheit. Der Dirigent produziert ja keinen Klang, er spielt keine Noten. Er kommuniziert mit Gesten und hofft, verstanden zu werden. Seine Arbeit basiert also auf Kommunikation, Respekt und auf Teamwork." Rätsel hin, Mysterium her: Der Lette (1978 in Riga geboren) ist in einer Art und Weise gestisch kommunikativ, die längst globale Anfragen nach sich zieht, denen wohl in gebührender Vollständigkeit nicht nachgekommen wird.

Nelsons energischer, ausladender Stil, sein emphatischer Zugang zum Dirigieren haben ihn mittlerweile in die erste Reihe der international gefragten Dirigenten geführt und ihm auch Edelposten beschert. Nelsons, der einige Jahre beim Birmingham Symphony Orchester Chef war (dort, wo Sir Simon Rattle eine Karriere begann, die ihn zu den Berliner Philharmonikern führen sollte), ist Montag und Dienstag im Wiener Musikverein mit seinem Boston Symphony Orchestra zu Gast.

Es winkt ihm allerdings auch in Europa eine nicht ganz unbedeutende Position: Nelsons wird 2018 Nachfolger von Riccardo Chailly als Leiter des Gewandhausorchesters Leipzig. Zwei hochkarätige Orchester gleichzeitig leiten – ist das nicht ein bisschen viel Verantwortung?

Zwei Orchester – kein Problem

"Ich sehe darin keinerlei Probleme, ich freue mich. Wir werden auch Gemeinschaftsprojekte entwickeln, eine enge Bindung zu beiden Orchestern ist möglich." Dies habe schließlich auch sein lettischer Kollege und Mentor Mariss Jansons gezeigt, der lange Jahre zwischen Amsterdam (Concertgebouw Orchester) und München (Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) pendelte. Der zukünftige Gewandhauskapellmeister kommt nach Wien jedenfalls schon einmal vorsorglich mit europäischem Programm: Im Gepäck führt er Werke von Schostakowitsch, Rachmaninow, Debussy, Tschaikowski und Mahlers Neunte Symphonie, mit der Nelsons einst in Boston debütierte. Mit dabei auch die edle Absicht, sich weiterzuentwickeln: "Wir haben eine großartige Konzerthalle in Boston. Tourneen sind aber wichtig – auch für die Flexibilität des Orchesters. Man ist ja in verschiedenen Hallen zu Gast und muss sich anpassen. Wenn man wieder zu Hause landet, ist man gewissermaßen besser geworden. Wobei das Boston Symphony Orchestra für mich eines der besten Orchester der Welt ist. Es hat eine große Tradition. Ich muss interessante Ideen präsentieren – diese tollen Spieler wollen motiviert werden."

Die Alltagsfreuden und -leiden der Orchestermusiker kennt Nelsons gut. Er war Trompeter im Orchester der lettischen Nationaloper. Überhaupt Musiktheater: Als Fünfjähriger hat Nelsons in Riga Wagners Tannhäuser erlebt und war beeindruckt. Sehr. Er erzählt von anschließendem Fieber und von Schlaflosigkeit – wie auch vom Entschluss, sich dem Dirigierwunsch hinzugeben. Wagner begegnete Nelsons längst auch in Bayreuth, und es geht weiter: Diesen Sommer dirigiert er auf dem Grünen Hügel die Premiere von Parsifal. Worin das Ziel des Dirigierens grundsätzlich besteht, ist für Nelsons klar, ob er nun in Boston oder in Bayreuth arbeitet: "Bei einem Werk muss ich den Grund erkennen, warum es geschrieben wurde. Es muss mich auch emotional treffen. Dann geht es darum, bei der Musik Spannung herauszustellen. Wenn ich im Konzert Energie abrufen kann und die Musik erblüht, macht das Freude."

Wie ihm dies gelingt, lässt sich anhand von Tonträgern prüfen – nun kam eine neue Schostakowitsch-CD heraus (5., 8. und 9. Symphonie, erschienen bei der DG). Eine Vorgänger-CD Nelsons wurde mit einem Grammy prämiert. (Ljubiša Tošić, 6.5.2016)