"Es wird nicht auf dem Papier stehen, dass du den Job nicht bekommst, weil du homosexuell, jüdisch oder Roma bist. Oder deine liberale Meinung laut äußerst", sagt die ungarische Künstlerin Kinga Tóth.

Foto: Baros Tot

STANDARD: Wie ist derzeit die Stimmung in der ungarischen Oppositionsbewegung?

Kinga Tóth: Zsófia Bán, eine ungarische Schriftstellerin, die jetzt in Berlin lebt, hat davon gesprochen, dass eine riesengroße Apathie herrscht. Man schreibt Petitionen und demonstriert auf der Straße. Wenn man im Ausland lebt, dann spricht man davon, was in Ungarn jetzt läuft. Wir spielen mit den Regeln der Demokratie. Aber unser mächtiger Gegenpol, die Regierung und ihr Gefolge, spielt nicht mit demokratischen Regeln. Das ist es, wovor wir Angst haben. Die gegenwärtige Regierung arbeitet nach sozialistischen, aber auch nationalistischen Regeln – ein sehr interessanter Hybrid. Für mich ist es unberechenbar, was hier passiert.

STANDARD: Welchen Platz nehmen Künstler und Künstlerinnen in dieser Protestbewegung ein?

Tóth: Die KünstlerInnen sind die Leute, die die meisten Kontakte zum Ausland haben. Sie haben alternative Informationen und können andere Nachrichten nach Hause transportieren. Ich lebe derzeit in Deutschland, und ich werde als Ungarin oft komisch angesehen, weil die Leute wissen, was in Ungarn abgeht. Viele meiner KollegInnen, die im Ausland leben, haben dasselbe Problem. Diejenigen von uns, die in Ungarn geblieben sind, kämpfen für ein freies, buntes Ungarn. Das sind die Leute, die den Mut haben, Demonstrationen oder kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Wir KünstlerInnen haben nichts mehr zu verlieren – deswegen sind wir mutig und zeigen dieses andere Ungarn.

STANDARD: Seit der Regierung von Viktor Orbán haben sich nationale Töne im Kulturbereich verschärft. Wie ist die derzeitige Situation?

Tóth: Kultur war immer staatlich gefördert. Was jetzt läuft, ist deswegen interessant, weil die Fachleute, die Kuratoren und Kuratorinnen, diejenigen, die die Ausbildung haben, "irgendwie" ihre Stellen verloren haben. An jeder dieser Stellen sitzen jetzt sozusagen die "Soldaten" von Orbán. Es gibt kein künstlerisches KuratorInnensystem mehr. Der Staat übt einen enormen Druck auf diese Stellen aus. Seither wird alles überpolitisiert: Wenn man nicht konform geht, dann kann man fast keine Ausstellung mehr machen – zumindest nicht in diesen Galerien.

Es wird nicht laut gesagt, dass es in Ungarn eine Zensur gibt, aber sie existiert. Seit Monaten warten etwa die HerausgeberInnen von Kunstmagazinen auf die Entscheidung der staatlichen Juroren, ob wir staatliche Unterstützung bekommen. Derzeit arbeiten alle Mitarbeiter ohne Lohn. Das ist natürlich Absicht der Regierung. Es ist ein langsamer Prozess, um die Kultur zu töten.

STANDARD: Betrifft diese Entwicklung alle Kulturbereiche?

Tóth: Wenn jemand ein Freund oder Familienmitglied unseres Ministerpräsidenten ist oder in seinem Schlepp, dann bekommt man natürlich Unterstützung. Die Frage ist, ob man darauf Lust hat. Sehr viele Leute machen das, weil es sonst kein Geld und keine Jobs gibt. Ich arbeite in einer Organisation, dem József-Attila-Kreis für junge Schriftsteller und Dichter, und wir arbeiten seit Jahren ohne Geld. Deswegen brauchen wir auch internationale Projekte und internationale Partner, Austauschprogramme oder Ausbildungsprogramme. Diese Arbeit machen wir nicht für uns, sondern für die nächste Generation.

Es gibt in diesem Duktus die "Nationalkultur" und die "entartete Kunst". Ich weiß, dass das ein schlechtes Wort ist. Wenn man die Geschichte studiert, dann kennt man diese Prozesse aus vergangenen Zeiten. Es ist furchtbar, was da abläuft.

STANDARD: In der Vergangenheit war von Fällen zu lesen, wo Kulturschaffende aus Positionen gehievt wurden, weil sie nicht in den nationalistischen Kanon passten. Wie etwa damals die Absage des Direktors des Nationaltheaters, Róbert Alföldi, der wegen seines modernen Theaterstils und seiner Homosexualität immer wieder zur Zielscheibe rechtsextremer Proteste wurde.

Tóth: Ja, die gegenwärtige Regierung macht das sehr schön organisiert und in Stille. Es ist ein System, dass schwer greifbar ist, ständig in Bewegung. Die Regeln ändern sich andauernd. Man weiß nicht, warum man seinen Job verliert. Ist es, weil man homosexuell ist und sich in einer LGBT-Gruppe engagiert? Oder weil man ein bisschen liberal ist und seine Meinung öffentlich äußert? Es wird nicht auf dem Papier stehen, dass du den Job nicht bekommst, weil du homosexuell, jüdisch oder Roma bist. Oder deine liberale Meinung laut sagst.

STANDARD: Wie ist es um die Frauenpolitik in Ungarn bestellt?

Tóth: Es gibt sehr viele Skandale in der Regierung. Es sind einige Fälle von häuslicher Gewalt in Regierungsreihen herausgekommen, Regierungsmitglieder, die ihre Frauen geschlagen haben. Zur Strafe mussten sie 1200 Euro bezahlen, und das war’s. Die Frauenbewegung muss hier noch stärker und kritischer werden. Ein weiterer Skandal, der jetzt herauskam, ist die Geschichte eines ungarischen Schwimmtrainers, der vor vielen Jahren mit zwei Kollegen eine junge Frau vergewaltigt hatte. Alles wurde geheim gehalten, und er konnte eine Karriere als Star-Schwimmtrainer aufbauen. Das war aber nur die Spitze des Eisbergs und der Auslöser, dass jetzt viele Frauen über das Thema sprechen. Lange Zeit war Gewalt gegen Frauen ein Tabuthema – auch im Sozialismus negierte man es.

Während der Flüchtlingskrise, als Ungarn einen großen Zaun aufstellen ließ, sagten alle, Flüchtlinge seien Kriminelle. Nach den Vorfällen in Deutschland sagten sie, Ungarn hätte es gut gemacht, jetzt hätten wir keine Vergewaltiger im Land. Doch jetzt kommt eine neue Argumentation: Nicht die Flüchtlinge sind die Aggressoren, sondern ganz oft die ungarischen Männer. Auch in "unserer" Kultur, in diesem patriarchalen System werden Frauenkörper ausgenutzt. Und das ist neu in Ungarn, dass man davon laut spricht. So ist die Situation 2016.

STANDARD: Inwiefern haben sich Rollenbilder in den letzten Jahren verändert?

Tóth: Orbán hat in vielen öffentlichen Reden darüber gesprochen, dass Frauen weiblichen Prinzipien zu folgen hätten. Ihre Rolle sei es, Kinder zu produzieren, als Hausfrau zu arbeiten und ihre Männer zu unterstützen. Zum einen ist diese Ansage natürlich wie eine Ohrfeige für alle Frauen. Zum anderen kann das aber auch gesellschaftlich nicht funktionieren, weil in einem ungarischen Haushalt beide ein Einkommen haben müssen – anders ist es finanziell nicht machbar.

STANDARD: Seit zwei Jahren leben Sie als Autorin und Performancekünstlerin in Deutschland. Sehen Sie Perspektiven, mit Ihrer Kunst auch in Ungarn zu leben?

Tóth: Derzeit nicht. Es war schwierig für mich als aktives Mitglied zweier literarischer Organisationen, von Ungarn wegzugehen. Aber wir haben es so gelöst, dass ich nun für die internationale Kommunikation verantwortlich bin. So kann ich wenigstens meine KollegInnen unterstützen. Es ist in Ungarn derzeit politisch und finanziell sehr schwierig zu leben. Und es ist wichtig, darüber zu sprechen, wie die Situation tatsächlich ist. (Christine Tragler, 7.5.2016)