Für ein Pflaster aufs Knie muss kein Jugendlicher zum Spezialisten, die Zahl der Kinderärzte und -psychiater ist in Österreich laut Experten dennoch zu gering. Schweden geht in Sachen Kindergesundheit einen anderen Weg: Dort übernehmen Krankenschwestern viele Aufgaben.

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Kinderärzte in Österreich.

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Mit jedem Zentimeter, den sich die Schülerin langsam aufrichtet, wird die schiefe Wirbelsäule sichtbarer. Die Schulärztin fragt nach, ob das Mädchen noch regelmäßig schwimmen geht und macht eine Notiz, eine Notiz, die ein klitzekleiner Puzzlestein für österreichweite Daten über den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen sein könnte. Das ist sie aber nicht. Die Datenlage ist mangelhaft und die Versorgungssituation ebenfalls – die Lücken lassen sich, etwa im Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie, oft nur durch den internationalen Vergleich beziffern.

Schulärzte haben kein einheitliches Computersystem zur Erfassung und Auswertung der von ihnen erhobenen Daten – dabei hätten sie Informationen über Diabetes, Adipositas, Haltungsschäden und Magersucht und auch Zahngesundheit, wie Gudrun Weber, Referentin der Schulärzte in der Ärztekammer, ausführt. Ein 2002 eingeführtes Computerprogramm sei veraltet, nur ein Teil der Schulärzte nutze es, und manches Bundesland greife inzwischen auf eine eigene Lösung zurück.

Mit dem Schulrechtspaket, das derzeit in Begutachtung ist, stand überhaupt eine Abschaffung der sogenannten Gesundheitsblätter, in denen von Schulärzten Gesundheitsdaten erfasst werden, im Raum. Inzwischen ruderte das Unterrichtsministerium zurück: Man werde "die Gesundheitsblätter belassen und den Entwurf aufgrund der bereits eingegangenen Stellungnahmen entsprechend überarbeiten", hieß es dort am Dienstag auf Nachfrage.

Es gibt aber auch Kritik an der Tätigkeit der Schulärzte: Diese hätten einen "unklaren Auftrag", sagt die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz. "An den Zähnen eines Volkschulkindes kann man seine soziale Herkunft ablesen", erklärt sie die Notwendigkeit, Kindern möglichst früh Gesundheitsförderung näherzubringen.

Wo Kinderärzte fehlen

Pilz spricht im STANDARD-Gespräch überhaupt von einer "massiven Unterversorgung" für Kinder in Wien. Besonders betroffen von einem Kinderärztemangel seien der zehnte und elfte Bezirk. "Es ist eine Zumutung, dass es zu wenige Kassenärzte gibt", so Pilz. Viele Eltern seien finanziell nicht in der Lage, auf Wahlärzte auszuweichen. Außerhalb Wiens gibt es freilich gleichfalls Regionen, in denen Kinderärzte fehlen.

Um dem Versorgungsengpass vor allem zu Randzeiten entgegenzuwirken, schlägt Pilz einen kinderärztlichen Notdienst vor, ähnlich dem Ärztefunkdienst. Grippekranke Kinder müssten nicht unbedingt in Ambulanzen von Spezialisten betreut werden. Außerdem fordert Pilz, die neuen Primärversorgungszentren mit Kinderärzten auszustatten. Insgesamt ist die Zahl der Kinderärzte österreichweit langsam im Steigen: Im März gab es im niedergelassenen Bereich laut Ärztekammer 340 Ärzte mit Kassenvertrag mit Erstfach Kinder- und Jugendheilkunde sowie 278 Wahlärzte. Allerdings war die Zahl der Kassenärzte dieses Faches vor zehn Jahren mit 294 Ärzten auf einem langjährigen Tiefstand angelangt gewesen.

Ärztezahl ist kein Garant

Kinderarzt Franz Waldhauser, früher am Allgemeinen Krankenhaus in Wien tätig, sieht eine steigende Zahl der Kinderärzte nicht als Garant für gesündere Kinder. Denn in Schweden, das besonders gute Gesundheitsdaten bei Kindern aufweist, gibt es noch weniger Kinderärzte. Dort sind auch Krankenschwestern in der Primärversorgung tätig, für Waldhauser ein "guter, niederschwelliger Ansatz"; nicht jedes kranke Kind müsse sofort von einem Spezialisten betreut werden.

Von einem Spezialistenmangel kann man aber in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sprechen: In Deutschland gibt es im niedergelassenen Bereich einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Kasse pro 80.000 Einwohner. Zwar nimmt die Zahl der Kassenstellen in Österreich zu – bundesweit sollen es in diesem Jahr laut Ärztekammer 26,5 Kassenstellen werden –, das Ziel wäre aber erst mit viermal so vielen erreicht.

Als die Kinder- und Jugendpsychiaterin Charlotte Hartl, Obfrau der Bundesfachgruppe Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Ärztekammer, 2007 ihre Kassenordination eröffnete, sei ihr Terminkalender nach ein bis zwei Quartalen überfüllt gewesen. "Das geht allen Kollegen so", sagt Hartl.

Auch die Zahl der Betten hinke in Österreich hinterher: Hartl zufolge gibt es nur halb so viele Betten in kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen, wie gebraucht würden. Allein Vorarlberg erfülle die Vorgaben. "Man kann Vorarlberg und Kärnten loben. Alles andere ist eine Katastrophe", sagt die Ärztin.

Nach Angaben des Vertretungsnetzes Patientenanwaltschaft wurden im Vorjahr 1.400 Kinder und Jugendliche in Österreich in der Psychiatrie untergebracht, weil sie sich in einer psychischen Ausnahmesituation befanden und sich oder jemand anderem etwas antun wollten. Rund ein Viertel sei mangels Alternative in die Erwachsenenpsychiatrie aufgenommen worden.

Zu wenige Abteilungen in Spitälern bedeuten auch einen Mangel an Ausbildungsplätzen. "Es werden automatisch zu wenige Fachärzte ausgebildet", sagt Hartl. Statt bisher im Verhältnis eins zu eins (ein auszubildender Arzt kommt auf einen Oberarzt oder Primar, Anm.) darf inzwischen im Verhältnis eins zu zwei ausgebildet werden. Vier Jahrzehnte lang sei aber verschlafen worden, eine adäquate Versorgung aufzubauen. Jetzt geschehe etwas, aber, so Hartl: "Das können wir jetzt nicht aus dem Hut zaubern." (Marie-Theres Egyed Gudrun Springer, 4.5.2016)