Wien – Sonderschulen, in denen Kinder mit körperlicher oder psychischer Behinderung separat beschult werden, sollten deutlich reduziert werden. Darin waren sich Experten am Montag bei einer Diskussion im Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien einig. Ein gemeinsamer Unterricht dürfe aber nicht als Sparprogramm dienen, außerdem müsse es weiterhin passende Angebote für alle Schüler geben.

In Österreich können Eltern behinderter Kinder wählen, ob ihr Kind in einer Sonderschule oder inklusiv, also in einer Klasse mit Kindern ohne Behinderung, unterrichtet wird. Sollen davon alle Seiten profitieren, koste Inklusion mehr Geld als eine Sonderschule, betonte Bernd Ahrbeck, Experte für Verhaltensgestörtenpädagogik an der Berliner Humboldt-Universität.

Gewerkschafter warnt vor mehr Inklusion

Während in Österreich allerdings zu Beginn der Inklusion Mitte der 1990er-Jahre die Schulen mit Ressourcen überschüttet worden seien, würden mittlerweile die Mittel wieder zurückgefahren, äußerte sich der oberste Lehrergewerkschafter Paul Kimberger (FCG) kritisch. Unter diesen Umständen werde es immer schwieriger, auf die Schüler einzugehen. Er warnte vor einer flächendeckenden Ausweitung des Inklusionsmodells, dies würde massive Investitionen in Barrierefreiheit der Schulgebäude, Fachpersonal und Lehrmaterialien bedeuten.

Geht es nach Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe, wären die Kosten jedoch nur mittelfristig höher. Über einen Zeitraum von 40 Jahren komme den Staat eine inklusive Beschulung billiger, da sie viel mehr behinderten Menschen als bisher den Weg zum zweiten oder gar ersten Arbeitsmarkt statt nur in staatlich geförderte Werkstätten eröffne.

Moral und Bedürfnis

Die Umwandlung zu einem inklusiven Schulsystem dürfe nicht nur kein Sparprogramm sein – es müssten auch weiterhin die Bedürfnisse jedes Kindes berücksichtigt werden, war man sich auf dem Podium einig. So gebe es durch die 2008 von Österreich ratifizierte UN-Menschenrechtskonvention prinzipiell keinen Zwang, die Sonderschulen komplett abzuschaffen, betonte Bildungswissenschafter Gottfried Biewer von der Uni Wien. "Sonderschulen sollten verschwinden – aber nicht um den Preis, dass die Kinder kein adäquates Angebot mehr bekommen." Er sei sich allerdings sicher, dass man diese Angebote in regulären Schulen schaffen könne.

Ahrbeck warnte davor, die Moral und den Wunsch nach mehr Akzeptanz behinderter Menschen über die Bedürfnisse der Schüler und Lehrer zu stellen. "Ich sage zwar, es soll weniger spezielle Beschulungsformen geben. Aber etwa für Kinder mit schweren psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen gibt es weltweit keine Modelle für Inklusion, die funktionieren. Deshalb würde ich darüber nachdenken, ob bestimmte Menschen nicht doch Besonderes brauchen."

Negativbeispiel Bremen

Dazu kämen Auswirkungen auf das Gesamtsystem: So sei etwa in Bremen das Schulsystem besonders inklusionsfreundlich, gleichzeitig würden die dortigen Schüler aber bei allen Leistungstest an letzter Stelle landen, und die soziale Selektion sei am höchsten. Auch Kimberger forderte eine differenzierte Herangehensweise: Inklusion sei keine Frage der Ideologie, sondern eine Frage, was das Beste für jedes einzelne Kind sei.

Für Lebenshilfe-Präsident Weber soll den Eltern von Kindern mit Behinderung jedenfalls künftig als erste Option eine inklusive Beschulung angeboten werden, nicht die Sonderschule. Die Wahlmöglichkeit sei in der Realität derzeit nur ein "Anklopfrecht – viel mehr ist das nicht".

Frage des politischen Willens

So gibt es laut Biewer derzeit kaum AHS, die auch Kinder mit Behinderung aufnehmen. Entscheidend sei in dieser Frage der politische Wille, betont Weber: Das führe dazu, dass in der Steiermark über 80 Prozent der Kinder mit Behinderung in Regelschulen sitzen, in Niederösterreich aber nur ein Drittel. Über alle Bundesländer wird die Hälfte der Kinder mit Behinderung, das sind knapp zwei Prozent aller Schüler, in separaten Einrichtungen unterrichtet.

Eine Veränderung des Status Quo dürfte es allerdings nicht schnell geben, glaubt Bildungswissenschafter Biewer: Zwar sehe der 2012 verabschiedete Nationale Aktionsplan Behinderung vor, dass bis 2020 flächendeckend inklusive Modellregionen eingerichtet werden. Im Gegensatz zu den 1990er-Jahren gebe es allerdings keine nationale Strategie. In der geplanten Bildungsreform fehle das Thema Inklusion komplett, es seien keine zusätzlichen Mittel eingeplant. "Es gibt keinen Hinweis mehr darauf, dass Sonderbeschulung zugunsten inklusiver Strukturen zurückgebaut werden soll, wie das der nationale Aktionsplan Behinderung noch vorschlug."

"Fahrlässige" Lehrerausbildung

"Fahrlässigkeit" ortet Biewer gar bei der Reform der Lehrerausbildung: Seit 2015 gibt es keine eigene Ausbildung mehr für Sonderschulpädagogen, stattdessen sollen alle Lehrer den Umgang mit psychisch und physisch beeinträchtigten Schülern erlernen. Wie das in der Praxis geschieht, sei allerdings dem "freien Spiel der Kräfte" in den Ausbildungsstätten überlassen. Dazu komme, dass zwar 2018/19 die letzten Sonderschullehrer ihr Studium abschließen, es aber nicht gleich im Folgejahr die ersten Absolventen der neuen Lehrerausbildung mit Inklusionsschwerpunkt geben wird. "Es gibt über mehrere Jahre eine massive Lücke bei der Ausbildung von Fachpersonal aufgrund staatlicher Fehlleistung." (APA, 3.5.2016)