Nach der Bundespräsidentschaftswahl geht es um die Existenzberechtigung der Sozialdemokratie. Denn kaum ein Signal der Ablehnung könnte stärker sein als die großflächige Abwanderung von Arbeitern, Lehrlingen und Kleinverdienern zu einer Partei, die sich politisch derart anders verortet als die Sozialdemokraten -- insbesondere in Fragen der Verteilungspolitik.

Könnte die SPÖ diesen Negativtrend umkehren und wieder diejenigen Wähler ansprechen, für die sie sich am meisten einzusetzen glaubt? Wenn überhaupt, dann nur, wenn ihre Parteieliten zu umfassenden Reformen bereit sind -- programmatischen und strukturellen Reformen, die mehr als Lippenbekenntnisse sind, denen keine Taten folgen.

Programmatisch muss sich die SPÖ in zumindest zwei großen Themenfeldern neu positionieren. Zum einen ist das der Bereich der Verteilungspolitik, ein Bereich, der wie kein anderer die Interessen der an die FPÖ verlorenen Wählergruppen betrifft.

Das FPÖ-Narrativ deutet soziale Probleme als Resultat von Zuwanderung. Einwanderer, so die These, lösten einen Druck am Arbeits- und Wohnungsmarkt aus und würden folglich sinkende Löhne und steigende Mieten verursachen. Es entstünde ein Verdrängungswettbewerb, insbesondere im Niedriglohnbereich. Mit dieser Losung wird nicht nur eine Spaltung der Arbeitnehmer verfolgt, sondern letztlich von den strukturellen Ursachen aktueller Verteilungsengpässe abgelenkt. Die letzten vier Jahrzehnte klaffte sowohl die Einkommens- als auch Vermögensungleichheit erheblich auseinander. Doch diese Entwicklung hat nichts mit Zuwanderung zu tun, sondern mit der politischen Duldung von prekären Arbeitsverhältnissen einerseits und dem exzessiven Wachstum von privatem Finanzvermögen andererseits. So zeigen beispielsweise Befragungen des HFCS (Household Finance and Consumption Survey), dass die obersten fünf Prozent der Haushalte fast die Hälfte des gesamten Bruttovermögens Österreichs halten.

Die Panama Papers wiesen auf eine international operierende Finanzoligarchie hin, die Steuern auf Kosten aller anderen (meist legal!) vermeidet und uns damit vor ein gerechtigkeitstheoretisches Problem stellt: Warum soll die Mehrheit Steuern zahlen müssen, wenn Vermögende es sich leisten können, Steuern zu umgehen? Hier muss die Sozialdemokratie ansetzen und Deutungshoheit gewinnen: Der Verteilungskonflikt verläuft nicht zwischen Einheimischen und Zuwanderern, sondern zwischen arbeitenden Menschen und Vermögenden.

Das führt zum zweiten programmatischen Punkt: gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein Grund, warum die FPÖ großen Zulauf hat, ist, dass sie eine für viele Wähler überzeugende Idee gesellschaftlichen Zusammenhalts proklamiert. "Heimat" ist eingängig und verständlich. Wie alle rechtspopulistischen Parteien versteht die FPÖ "Heimat" jedoch sehr restriktiv. Sie nimmt eher eine organische Volkseinheit als eine "Willensnation" an.

Dem muss die Sozialdemokratie ein integratives Verständnis gesellschaftlichen Zusammenhalts – ja, vielleicht einen neuen Heimatbegriff – entgegensetzen. Das mag für viele Linke in Österreich merkwürdig klingen. Schließlich gibt es einen historisch bedingten Reflex gegen alles, was auch nur den Anschein erwecken könnte, "Nationalismus" zu sein. Aber man darf nicht vergessen, dass in anderen Ländern Linke oft erfolgreich mit stark integrativen Gesellschaftsvorstellungen operieren. Man denke an den von den schwedischen Sozialdemokraten geprägten Begriff des "Volksheims" oder aktuell an den "civic nationalism" der (linken!) Scottish National Party.

Diese Gesellschaftsvorstellungen wirken integrativ, weil sie zum einen nicht verleug- nen, dass erfolgreiches Zusammenleben einen Minimalkonsens über Werte und Institutionen – beispielsweise gegenseitigen Respekt und demokratische Prozesse – benötigt. Zum anderen lassen sie die Möglichkeit offen, zur Gesellschaft dazuzugehören, weil man dazugehören will – und nicht, weil man in diese Gesellschaft hineingeboren wurde, wie es der Volksbegriff der FPÖ andeutet. Klar muss sein, dass die Basis für gesellschaftlichen Zusammenhalt nur ein Einverständnis über demokratische und emanzipatorische Werte sein kann.

Demokratische und emanzipatorische Werte sollen auch die strukturellen Reformen anleiten, die die SPÖ anstrengen muss. Interne Disziplin und Hierarchie waren lange ein Erfolgsrezept der SPÖ: Sie erlaubten der Partei, geschlossen zu handeln und koordiniert Politik umzusetzen. Heute sind diese strukturellen Eigenschaften in erster Linie ein Hindernis: Sie wirken abschreckend auf jene, die sich parteipolitisch engagieren möchten, und blockieren den demokratischen Willensbildungsprozess innerhalb der Partei. Deshalb muss die Sozialdemokratie ihre Parteistruktur dahingehend ändern, alte Hierarchien in den Hintergrund zu rücken und verstärkt interne Partizipation zu ermöglichen.

Allem voran muss der Parteivorsitz der SPÖ direkt von der Basis gewählt werden. Doch auch wenn die Direktwahl des Vorsitzes in der heutigen SPÖ einer kleinen Revolution gleichkäme, sie kann nur der erste Schritt in die Richtung einer offenen und partizipatorischen Partei sein. Um Politik im Austausch mit der Bevölkerung zu machen, muss die Sozialdemokratie den Menschen die Möglichkeit bieten, sich an internen Diskussions- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen und ernst genommen zu werden.

All diese Reformen werden der SPÖ schwerfallen. Sie verlangen nach einer Neuerfindung der Partei. Und jene Kräfte in der Partei, die seit Jahren den Status quo verwalten, sitzen immer noch fest im Sattel. Doch sind es nicht gerade die alteingesessenen Parteieliten, die immer behaupten, die Partei sei alles für sie? Die Präsidentschaftswahl müsste genau diesen Parteieliten eigentlich gezeigt haben, dass dieses "alles" mehr denn je zuvor in der Zweiten Republik auf dem Spiel steht. (Pilipp Rathgeb, Fabio Wolkenstein, 2.5.2016)