Armenische Demonstranten fordern in ihrer Hauptstadt Eriwan "Hände weg von Karabach".

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STANDARD: Wie ist die Lage an der Front? Hält die Waffenruhe mit Aserbaidschan?

Tonojan: Es gibt keine wirkliche, ausgehandelte Waffenruhe. Was wir haben, ist nur eine Übereinkunft vom 5. April zwischen den Generalstabschefs beider Länder über ein Aussetzen der Gewalt. Es gibt Schusswechsel, die Lage ist sehr explosiv. Konstruktive diplomatische Maßnahmen fehlen. Drei Sicherheitsratsmitglieder sind zwar involviert – die zwei Nato-Staaten USA und Frankreich und unser strategischer Verbündeter Russland –, aber wegen des Verhaltens der aserbaidschanischen Seite gibt es keine Ruhe. Sie versuchen diesen Konflikt mit Gewalt zu lösen.

STANDARD: Armenien hält seit dem Karabach-Krieg Anfang der 1990er-Jahre 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums besetzt. Ist der militärische Stellenwert dieser Gebiete so hoch?

Tonajan: Die Aserbaidschaner fordern Armenien auf, Gebiete zu räumen. Aber das ist keine Basis: Zieht eure Truppen ab, und danach sehen wir weiter. Das gehört zu einem Verhandlungsprozess. Ich vertrete das Verteidigungsministerium. Ich werde nicht erörtern, welche Territorien hier infrage stehen.

STANDARD: Die Kämpfe sind am 2. April ausgebrochen. Wer hat angefangen?

Tonojan: Ich will objektiv sein, Beschuldigungen werden von beiden Seiten erhoben. Aber wenn Sie sich die offiziellen Erklärungen und die Medienberichte der aserbaidschanischen Seite anschauen, dann stellen Sie fest: Die Aserbaidschaner haben nie erklärt, dass sie diese Kämpfe nicht begonnen hätten. Sie sagen, sie seien von den Armeniern provoziert worden. Aber sie leugnen nicht, dass sie den Angriff gestartet haben. Es ist auch nicht möglich, eine militärische Operation von solchem Ausmaß einfach zu beginnen. So etwas muss zuvor geplant werden.

STANDARD: War die armenische Armee vorbereitet auf einen solchen Angriff?

Tonojan: Wir sind seit 22 Jahren in einer militärischen Verteidigungsposition. Wir waren immer auf einen Angriff der Aserbaidschaner eingestellt, denn sie haben nie ihren Verzicht auf Gewalt erklärt. Wir wussten, ein Angriff würde kommen. Man kann die Bewegungen an der sogenannten Kontaktlinie genau beobachten. Aber wir hatten Anfang April dieses Jahres keine Klarheit darüber, an welchem Tag genau es passieren würde.

STANDARD: Drei hochrangige Vertreter Ihres Ministeriums sind in den vergangenen Tagen entlassen worden. Was war der Grund?

Tonojan: Es wäre von meiner Seite aus nicht seriös, über Gründe zu sprechen. Das war eine Entscheidung meines Oberbefehlshabers. Es war seine Bewertung.

STANDARD: Das ist meine Frage. Nach jedem militärischen Konflikt wird bewertet, was in der Armee gut und was schlecht lief.

Tonojan: Es war eine Einschätzung des Präsidialamts nach dem Konflikt. In einem militärischen Umfeld diskutiert man nicht die Entscheidungen von Vorgesetzten.

STANDARD: Russland ist Ihr strategischer Partner ...

Tonojan: Unser Verbündeter ...

STANDARD: Ihr Verbündeter verkauft Waffen an Armenien und an Aserbaidschan, Ihren Feind. Das ist ja wohl ein Problem. Wie lösen Sie das?

Tonojan: Wir bringen dieses Thema regelmäßig zur Sprache. Der Präsident, der Verteidigungsminister, ich selbst – wir haben unserem Verbündeten mehrfach gesagt: Es kann zu der Situation kommen, in der Aserbaidschan alle Waffen in Stellung bringt, die es zur Verfügung hat. Jetzt haben sie es getan. Wir haben unserem Verbündeten gesagt, dass diese Waffenverkäufe nicht der normale Weg sind.

STANDARD: Sie erwarten, dass Russland den Waffenexport nach Aserbaidschan zumindest begrenzt?

Tonojan: Wir erwarten, dass offensive Waffen und Munition Aserbaidschan nicht zur Verfügung gestellt werden.

STANDARD: Haben Sie dieselben Erwartungen an Israel übermittelt?

Tonojan: Ja, nach diesen Kämpfen, nicht davor. Wir hatten nicht erwartet, dass die israelischen Waffen benützt würden.

STANDARD: Wir sprechen vom Einsatz der Kampfdrohnen. Was war die Antwort der Israelis?

Tonojan: Ich habe den Eindruck, sie sind besorgt. Wir hatten bereits Informationen. Jetzt aber haben wir Teile von zerstörten UAVs (Unmanned Aerial Vehicles, Anm.) in unseren Händen. Wir können nun mit den Israelis reden.

STANDARD: Nehmen Sie nach diesen Gefechten im April die Nato nun näher in den Blick?

Tonojan: Wir haben unsere Beziehungen zur Nato nie von unserer Zusammenarbeit mit Russland abhängig gemacht. Umgekehrt gilt dasselbe. Wir haben im Rahmen unseres individuellen Partnerschaftsprogramms sehr hochentwickelte Beziehungen zur Nato auf politischer und militärischer Ebene. Die Nato unterstützt uns bei der Reform unserer Verteidigung – taktisch und strategisch, bei der Hilfe für Friedenseinsätze und der Korruptionsbekämpfung. Aber das Problem der russischen Waffenlieferungen an Aserbaidschan wird nun nicht unsere Beziehungen zur Nato wärmer machen. Wir sind sehr praktisch orientiert in unserem Verhältnis zur Nato.

STANDARD: Wie wird es nun an der Front weitergehen?

Tonojan: Die Aserbaidschaner feuern weiter gezielt auf zivile Einrichtungen in unseren Dörfern nahe der Kontaktlinie. Sehr intensiv, jeden Tag ab neun, zehn Uhr abends. Sie provozieren weiter. Wir sind sehr nahe an einem großen Krieg. Und ich möchte noch etwas erwähnen: Im April sind viele Gräueltaten begangen worden an armenischen Zivilisten und Soldaten. 21 Jahre lang war es relativ ruhig. Die jüngsten Ereignisse aber setzen einen Schlussstrich unter die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, unter die Möglichkeiten für Vertrauensbildung. Bis jetzt behalten sie zwei Köpfe und zwei Hände von Leichen. Das ist inakzeptabel, empörend. (Markus Bernath, 2.5.2016)

Korrektur am 3.5.2016 um 13:00

Zur Frage "Armenien hält seit dem Karabach-Krieg Anfang der 1990er-Jahre 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums besetzt. Ist der militärische Stellenwert dieser Gebiete so hoch?": Die von armenischen Streitkräften seit dem Karabach-Krieg besetzt gehaltenen Gebiete betragen 14 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums und 9 Prozent unter Ausschluss des Autonomen Oblast Bergkarabach aus Sowjetzeiten. Vollständig besetzt sind fünf, teilweise besetzt zwei aserbaidschanische Distrikte. Aserbaidschan selbst beziffert die Größe der besetzten Gebiete stets mit 20 Prozent.