In meinem Fitnesscenter bieten sie neuerdings ein "Faszientraining" an. Eine schockierende Überraschung. Bis dato wusste ich nicht einmal, dass ich überhaupt Faszien besitze. Jetzt steht mir das Defizit, dass ich meine Faszien mein Leben lang vernachlässigt habe, wie ein blutrotes Menetekel vor Augen.

Zu meiner Entschuldigung kann ich lediglich vorbringen, dass es gesamtgesellschaftliche Gründe für die tief eingefleischte Faszienmissachtung gibt. Jahrhundertelang führten die Faszien ein völlig unscheinbares Dasein. In den Wörterbüchern verbargen sie sich scheu irgendwo zwischen Fasnacht und Faszikel (Faszie, laut Duden eine "sehnenartige Muskelhaut"). Ansonsten versteckten sie sich im Körperinneren, wo sie lediglich von Zeit zu Zeit von einem fürwitzigen Medizinstudenten beim Sezierkurs erspäht wurden ("Ah, was seh ich da? Wie faszinierend! Eine Faszie!")

In den Jahren 2010 ff. scheint sich das gravierend verändert zu haben. In einem amerikanischen Fitnesscenter – vermutlich einem kalifornischen – entdeckte man, erstens, die Relevanz der Existenz der Faszien an sich. Zweitens entdeckte man die enorme Dringlichkeit, dieselben zu trainieren. Die 1980er waren Atkins-Diät und Aerobic (unvergessen: die Workout-Videos von Jane Fonda!). Die 1990er waren Low Fat und Fitnesscenter. Die 2000er waren Low Carb und Yoga. Die 2010er sind Veganismus und Faszienfitness.

Und dies nicht nur in meinem Fitnesscenter, sondern allerorten. Denn das Faszienfieber grassiert weltweit. Jedes Mucki-Etablissement zwischen Winnipeg, Wien und Wladiwostok offeriert Faszienmassage, Fasziendrainage, Faszienbagage, Fasziendetox, Faszienfasten, Faszienfitzeln und Faszienfummeln. Mit diesem überwältigenden Angebot können sich Gesundheitsbewusste bestens gegen die Gefahren wappnen, welche den Faszien ständig drohen: Faszienverklebung, Faszienverfettung, ja in den schlimmsten Fällen sogar Faszienverstauchungen bis hin zum offenen Faszienbruch.

Damit hat die Fitness-Indus-trie nicht nur eine lange brachgelegene Workout-Baustelle am menschlichen Körper eröffnet, wir dürfen auch darauf hoffen, dass sie bald schon neue entdeckt. Welche das sein werden? Vermutlich erst der Blinddarm, dann das Gaumensegel, dann die Ohrläppchen. Es gibt so viel zu trainieren – packen wir's an! (Christoph Winder, Album, 29.4.2016)