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Laith Majid hält jenes Foto in der Hand, das Daniel Etter nach der Flucht von ihm gemacht hat. Der Iraker, hier mit Familie in Berlin, hat Deutschland wieder verlassen.

Foto: AP / Markus Schreiber

Fotograf Daniel Etter.

Foto: Andrea Ariel

STANDARD: Was bedeutet Ihnen der Pulitzer-Preis?

Etter: Natürlich ist das eine große Ehre und für eine Journalisten die größte Auszeichnung, die man bekommen kann. Was das konkret für mich und meine Karriere bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht bekomme ich mehr Aufträge, aber an meinem konkreten Alltag wird sich nicht viel ändern. Es gibt kein Bild, das mich so lange begleitet hat. Im positiven und im negativen Sinne. Das bleibt hängen und der Preis ist nur ein Teil davon.

STANDARD: Entstanden ist dieses Foto im August 2015 auf der griechischen Insel Kos: Was ist das Besondere?

Etter: Ich fotografiere schon seit vielen Jahren, aber diese Szene und die Ankunft dieser Familie am Strand zu erleben, war das emotionalste in meiner Karriere. Es war dunkel, am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Sie sind an einem ziemlich verlassenen Strandabschnitt angekommen. Es waren weder Helfer noch andere Journalisten dort. Das Boot hatte schon merklich Luft verloren, es war sehr knapp. Dann die Erleichterung des Vaters und seiner Familie sowie bei den anderen Menschen im Boot, das waren Momente, die mich sehr berührt haben. Nach der Veröffentlichung des Fotos kamen die enormen Reaktionen über Twitter, Facebook et cetera. Das ist das Positive.

STANDARD: Und der negative Aspekt?

Etter: Gleichzeitig mit dem Preis habe ich erfahren, dass ein Teil der Familie wieder in den Irak zurückgegangen ist. Das ist eine traurige Wendung.

STANDARD: Haben sie kein Asyl bekommen?

Etter: Das war deren Entscheidung, was zum einen daran liegt, dass sie in einem Heim in Berlin waren, wo die Zustände nicht besonders gut waren und es ständig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Bewohnern gekommen ist. Die Familie wusste nicht, was mit ihnen passiert. Sie verstanden nicht, was in den Papieren stand und hatten keine Perspektive. Vor einiger Zeit ist die Mutter dieses Mannes gestorben, woraufhin er einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Er wollte seine Mutter im Irak begraben. Gemeinsam mit seiner Frau und den jüngeren Kindern sind sie zurück in den Irak gegangen. Nicht in ihre Heimatstadt Bagdad, weil es dort zu gefährlich ist, sondern nach Erbil in den Norden. Da ist es zwar sicherer, es gibt aber keine Aussichten, ökonomisch Fuß zu fassen.

STANDARD: Hatten Sie, nachdem das Foto entstanden ist, weiter Kontakt mit der Familie?

Etter: Ja, ich habe sie zum Beispiel in Berlin getroffen und alle paar Wochen mit ihnen telefoniert. Die Mutter spricht halbwegs gut Englisch, da haben wir uns über Alltägliches unterhalten und wie es vorangeht. Vor ein paar Wochen konnte ich sie dann nicht mehr erreichen, weil sie, wie ich jetzt weiß, in den Irak zurückgekehrt sind, wo sie jetzt in prekären Verhältnissen leben.

STANDARD: Wie war die Situation am Strand in Kos, als das Foto entstanden ist? Sie haben auf Boote mit Flüchtlingen gewartet?

Etter: Zu dem Zeitpunkt war klar, dass zahlreiche Flüchtlinge aus der Türkei kommen werden. Auf der Karte konnte man leicht erkennen, wo die Boote vermutlich ankommen werden. Ich habe dort vor dem Sonnenaufgang gewartet. Bizarrerweise auf Liegestühlen von Luxushotels, die sich am Strand entlang reihen. Sobald es hell wurde, sah man am Horizont diese kleinen Punkte, die langsam näher kamen. Die orangen Schwimmwesten waren gut erkennbar. Das Foto entstand an meinem zweiten Tag dort.

STANDARD: Sind Sie danach noch dort geblieben?

Etter: Am nächsten oder übernächsten Tag war ich wieder am gleichen Strandabschnitt. Es war dunkel, ich war allein am Strand, und plötzlich hörte ich Hilfeschreie vom Meer. Ich bin zum nächsten Hotel gerannt, um den Rezeptionisten um Hilfe zu bitten. Der hat nur gemeint, ja, ja, das sind diese illegalen Migranten. Widerwillig konnte ich ihn überzeugen, die Küstenwache zu rufen. Die waren noch widerwilliger und haben gar nichts gemacht. Ich habe dann eine Kollegin, die Griechisch spricht, erreicht. Sie hat sich wieder an die Küstenwache gewandt und nach langer Überzeugungsarbeit sind die eineinhalb Stunden später hingefahren. Es war noch immer dunkel, ich war am Strand, und die Hilfeschreie sind nicht verstummt. Man weiß nicht, was passiert, und kann nichts machen. In dem Fall war glücklicherweise nur der Motor ausgefallen und das Boot ist zwischen Kos und der türkischen Küste hin und her getrieben.

STANDARD: Ist es bei Ihnen üblich, mit den Protagonisten Ihrer Fotos in Kontakt zu bleiben?

Etter: Es kommt darauf an. Man fotografiert so viele Menschen. Etwa auf Lesbos, wo die Taktung so extrem war, dass es Staus von Flüchtlingsbooten vor dem Strand gab. Bei den meisten Menschen fragt man kurz, wo sie herkommen, nach dem Namen, und nur selten hat man die Zeit, sich näher mit ihnen zu beschäftigen und länger in Kontakt zu bleiben. Wenn ich längere Reportagen mache, ist das was anderes. Etwa Anfang des Jahres, als ich in einem Schlepperhotel in Izmir war. Dort sind meist Syrer hingekommen. Ich war eine Woche dort, da lernt man Leute näher kennen, und mit einigen bin ich noch im Kontakt.

STANDARD: Glauben Sie, dass Sie mit den Fotos etwas bewirken können?

Etter: Als ich darüber nachgedacht habe, diesen Beruf zu ergreifen, bin ich mit der Idee angetreten, mit den Fotos viele Menschen zu bewegen und Dinge zum Besseren zu verändern. Über die Jahre bekommt man ein rationaleres und weniger romantisches Bild von dem Beruf. Man ist Teil eines großen, wichtigen Systems, die eigene, individuelle Arbeit hat aber selten großen Einfluss. Dieses Bild war eine Ausnahme, es hat extrem viele Menschen erreicht. Gerade durch die Verbreitung über soziale Netzwerke. Es gab viele Menschen, die berührt waren, die aufgrund dieses und anderer Bilder Hilfe angeboten haben. Was daraus wird, in welche Richtung sich die Reaktionen auf ein Bild entwickeln, darüber habe ich keine Kontrolle. Die Welt ist komplex, und wir Fotografen machen nur Bilder von Momenten, die dazu beitragen, Sachen in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Menschen sollten informiert, engagiert und involviert sein. Das können Journalisten mit ihrer Arbeit erreichen.

STANDARD: Gerade im Zuge der Flüchtlingskrise wird kritisiert, dass sich Journalisten zu Aktivisten machen. Wo ziehen Sie die Grenze?

Etter: Ich fotografiere, was ich sehe. Das sind auch emotionale Momente, die Mitgefühl auslösen. Kommt es beispielsweise auf Lesbos zu Ausschreitungen, würde ich das auch fotografieren. Das habe ich in Idomeni gemacht. Das sind viele Seiten einer Geschichte. Bilder funktionieren am besten, wenn sie emotional sind, das ist klar, aber ich mache auch andere Fotos. Den Vorwurf verstehe ich nicht, weil er sich nicht belegen lässt. Wie andere Menschen auf meine Bilder reagieren, habe ich nicht unter Kontrolle.

STANDARD: Fotografieren Sie irgendetwas nicht?

Etter: Nein. Natürlich kommt es vor, dass Menschen nicht fotografiert werden möchten. In manchen Kulturen wird es nicht gerne gesehen, dass Frauen fotografiert werden. Es gibt Szenen, etwa wenn Boote ankommen und aus Versehen das Kopftuch runterfällt, und die Frau mit entblößtem Haar dort steht. Auch wenn ich das fotografiere, würde ich es aus Respekt vor diesen Leuten nicht weitergeben. Diese Grenzen habe ich natürlich.

STANDARD: Und bei Schockmomenten?

Etter: Wenn Sie etwa auf dieses Bild von Aylan Kurdi anspielen: So etwas fotografiere ich, weil ich auch neben meinem journalistischen Anspruch einen dokumentarischen habe. Zum Teil bin ich manchmal der Erste, der solche Situationen sieht. Dann ist meine Pflicht, diese Bilder zu machen. Wenn Kinder zwischen der Türkei und Griechenland ertrinken, ich in keiner Weise helfen kann, aber mit dieser Realität konfrontiert werde, habe ich den Anspruch, das zu dokumentieren. Dokumentiere ich es nicht, habe ich meine Rechtfertigung verloren. Ich bereue öfter, etwas nicht zu fotografiert zu haben. Was man davon später veröffentlicht, ist eine andere Entscheidung, die oft komplizierter ist als zu fotografieren.

STANDARD: Gerade beim Aylan-Foto wurde heftig diskutiert, ob es veröffentlicht werden sollte. Manche Medien haben sich dagegen entschieden.

Etter: Ist es der Skandal, dass das Foto gemacht und veröffentlicht wurde? Das geht mir nicht in den Kopf. Der Skandal ist, dass die Politik in den letzten zwei Jahren keine Antwort auf eine Krise gefunden hat, die seit Jahren absehbar war. Die Auswirkungen sind der Skandal und nicht das Foto.

STANDARD: Sie waren 2014 auch in Libyen, wo es noch schlimmere Zustände gab als in Griechenland und der Türkei.

Etter: Libyen ist in den letzten Jahren zum zentralen Einfallstor über das Mittelmeer geworden. Das Land ist vollkommen zusammengebrochen. Milizen verdienen dort Geld mit Flüchtlingen. Zum einen gibt es viele Gastarbeiter, etwa Menschen aus Ghana, Niger oder Mali. Sie wurden dort schon immer krass diskriminiert. Nach dem Fall von Gaddafi hat sich ihre Situation weiter verschlechtert. Es gibt Leute, die mehr oder weniger versklavt sind und für eine Flasche Wasser pro Tag arbeiten. Die Flüchtlingsbewegung speist sich aus den Gastarbeitern dort und Menschen, die etwa aus Eritrea oder Somalia kommen. Erreichen sie Libyen, werden sie oft sofort von Milizen festgesetzt. Um aus diesen Gefängnissen zu kommen, wo dramatisch schlechte Zustände herrschen, müssen sie sich freikaufen. Damals waren es 1.500 Dollar. Ich war im März dort, als es bereits 40 Grad hatte. Leute werden in Eisenhäusern festgehalten. Das Wasser war mit Larven durchsetzt. Diese Gefängnisse sind überfüllt, heiß, stinken und haben keine vernünftigen Sanitäranlagen.

STANDARD: Waren Sie auch bei der Überfahrt dabei?

Etter: Ich war auf einem Boot im Mittelmeer, mit dem Flüchtlinge aus Libyen aufgelesen wurden. Die hatten alle Hauterkrankungen wegen der Zustände in diesen Lagern. Am Strand wurden die in 20 Meter lange Schlauchboote gesteckt, die nur für diesen Zweck gebaut werden. Bis zu 140 Leute kommen da rein, die dann einfach auf den Weg geschickt werden. Sie müssen stehen, weil es zu eng zum Sitzen ist. Ihnen wird gesagt, sie sollen Richtung Norden fahren und bekommen dafür einen Kompass mit auf den Weg. Da waren welche dabei, bei denen sich die Nadel im Kreis gedreht hat, oder es gab Kompasse, wo Norden im Süden war. Wenn es gut läuft, werden die nach zwei, drei Tagen aufgelesen. Läuft es nicht gut, treiben sie in den Gewässern, bis sie verdursten oder ertrinken. Das Risiko, von Libyen in Richtung Italien aufzubrechen, ist unglaublich. Viele Menschen verstehen gar nicht, auf was sie sich einlassen und denken, dass sie in ein paar Stunden dort sind.

STANDARD: Wollen Sie als freier Fotograf tätig bleiben, oder streben Sie eine fixe Anstellung an?

Etter: Lacht.

STANDARD: Ist das so utopisch?

Etter: Das wäre nett, gibt es aber nicht. Es hat Vor- und Nachteile. Ich kann machen, was ich möchte, und habe nicht den Zwang, den angestellte Fotografen haben, etwa dass sie Eiskunstlauf fotografieren müssen oder anderes, was mich nicht interessiert. Auf der anderen Seite fehlt die finanzielle Absicherung, wenn man den Job verliert oder das Equipment kaputtgeht. Man macht es ja auch nicht für das Geld. Dann hätte ich mir was anderes suchen müssen. (Oliver Mark, 1.5.2016)