Klerikaler Faschismus am Horizont? Mitte April feierte PiS-Chef Kaczyński die Christianisierung Polens im Jahr 966 und 1.050 Jahre katholisches Polen.

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Wenn man sich vor ein paar Monaten noch fragen konnte, wohin Polen steuert, scheint jetzt alles klar zu sein. Die Parlamentswahlen im Herbst 2015 haben einen eindeutigen Sieg der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) gebracht, der einige Optionen offenließ. Seither haben sich die Hinweise verdichtet, dass PiS-Chef Jaroslaw Kaczyński die Absicht verfolgt, die liberale Demokratie zu zerschlagen und ein autoritäres Regime zu errichten, an dessen Spitze er sich selber sieht. Dass Polen damit im europäischen Trend liegt, ist ein schwacher Trost.

Ein großes Hindernis auf dem Weg zur absoluten Macht hat Kaczyński aus dem Weg geräumt, als es ihm gelang, den Verfassungsgerichtshof durch umstrittenes neues Gesetz faktisch handlungsunfähig zu machen. Ein Anschlag auf die Rechtsstaatlichkeit, gegen den empörte Bürger zu Zehntausenden auf die Straße gingen. Neben führenden polnischen Rechtsexperten und Berufsvereinigungen von Richtern und Rechtsanwälten äußern auch ausländische Politiker und Gremien der EU ernste Bedenken gegen die Schwächung des wichtigsten Kontrollorgans der Staatsmacht. In einer scharfen Resolution warnte zuletzt das EU-Parlament vor einer "effektiven Lähmung" des obersten Gerichts, die eine Bedrohung der Demokratie darstelle. Kaczyński kümmern solche Stimmen allerdings wenig.

Effektive Lähmung

Der Schlag gegen das Verfassungsgericht war keine Einzelaktion. Angetrieben vom entfesselten Machtwillen des PiS-Chefs verfolgt die Regierung das Ziel, alle wichtigen Bereiche des Staates und des öffentlichen Lebens unter ihre Kontrolle zu bringen, vom Verfassungsgericht über die öffentlich-rechtlichen Medien und kulturelle Institutionen bis hin zur Wirtschaft. Zu diesem Behuf werden im Ruck-zuck-Verfahren Gesetze verabschiedet. Etwa jenes, das den Verkauf von Ackerland neu regelt, angeblich um polnische Bauern vor der Gier ausländischer Agrarunternehmen zu schützen. Eine staatliche Agentur für landwirtschaftliche Immobilien soll jeden Verkauf von Ackerland überprüfen – und genehmigen oder nicht. In der Praxis bedeutet das eine Einschränkung des bäuerlichen Rechts auf privaten Grundbesitz, die, so Bauernvertreter, zu einer "Verstaatlichung der landwirtschaftlichen Flächen" führen könnte. Das haben nicht einmal die Kommunisten gewagt.

Auch sonst gehen die neuen Machthaber forsch vor. Unliebsame Personen werden geschasst und durch gefügige Leute ersetzt, was der Regierung die Möglichkeit gibt, treue Gefolgsleute mit lukrativen Posten zu belohnen. Wer nicht für den neuen Kurs ist, wird zum Gegner erklärt, Kritiker werden pauschal als Polen der "übleren Sorte" diffamiert und nach Möglichkeit mundtot gemacht. Kaczyński kennt nur zwei Lager: die Freunde, die ihm bedingungslos Gehorsam leisten, und die Feinde, mit denen er kompromisslos abzurechnen gedenkt. Dementsprechend rau ist der Ton der politischen Debatten, die nach einem primitiven Freund-Feind-Schema ablaufen.

Polen der "übleren Sorte" sind alle, die sich den hochfliegenden Plänen Kaczyńskis entgegenstellen, vor allem die Anhänger der unabhängigen Bürgerbewegung KOD, Komitee für die Verteidigung der Demokratie, die gegen die autoritären Bestrebungen der PiS kämpfen. Aus spontan mithilfe sozialer Medien zusammengetrommelten Protestmärschen entstand innerhalb kurzer Zeit eine machtvolle Bewegung, die jederzeit imstande ist, überall im Land Aktionen gegen die Aushöhlung der Demokratie zu organisieren. Für Kaczyński sind die Anhänger des KOD durchwegs "Postkommunisten", die alles, "was in unserer Kultur heilig ist, mit Füßen treten ... und Polen verachten". Eine nationalistisch aufgeheizte Diktion, die an die Sprachordnung Putins oder auch Erdogans erinnert – auch sie stempeln Opponenten routinemäßig als Verräter des Vaterlandes und seiner heiligsten Werte ab.

Ebenso unwirsch reagiert das offizielle Polen auf besorgte Stimmen aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland. Es gebe in Polen keine Probleme mit der Demokratie, weist Kaczyński ausländische Kritiker zurecht, "dafür gibt es solche in Deutschland". Er verfüge über sichere Hinweise, "dass die dortige Demokratie faktisch bereits liquidiert wurde". Die Arbeit des Deutschen Bundestages werde heute so reguliert, dass er, Kaczyński, falls Ähnliches in Polen geschähe, das "als Versuch betrachten würde, eine Diktatur zu errichten".

Es ist ein Merkmal autoritärer Persönlichkeiten, dass sie sich selber stets als lupenreine Demokraten bezeichnen und Verletzungen der Demokratie, der Menschenrechte und Meinungsfreiheit immer nur bei den anderen ausmachen, in der Regel bei ihren Gegnern. In dieses Denkschema passt auch, dass Kaczyński und seine Anhänger überall Verschwörungen wittern.

Jede Kritik aus dem Ausland wird als ungerechtfertigt und beleidigend abgetan. Die "alte EU" sei eingebildet, erklärt Regierungschefin Beata Szydlo schmallippig, und liebe es, andere zu belehren. Dabei wollten die EU-Politiker mit ihren Rügen "nur von ihrer eigenen Inkompetenz ablenken". Besonders erbost gibt sie sich darüber, dass Warschau zur Einhaltung europäischer Werte aufgerufen wird. Was die wahren europäischen Werte sind, glaubt man in Polen besser zu wissen als anderswo. Nämlich die identitätsstiftenden christlichen Werte, die man im übrigen Europa längst vergessen hat. "Wir in Polen genießen den ungeheuren Vorteil gegenüber dem restlichen Europa, dass wir unsere Identität noch nicht eingebüßt haben", belehrte Szydlo die Kritiker aus Brüssel und Berlin. Es sei vielleicht "Polens historische Mission", Europa an diese Werte zu erinnern.

Polen gegen das restliche Europa. Diese von Größen-, aber auch von Verfolgungswahn zeugende Sicht scheint im neuen Polen weit verbreitet. Polen als Bollwerk des wahren christlichen Glaubens, den es gegen das übrige, in Sünde versinkende Europa zu verteidigen gilt. Das gemahnt an Vorstellungen von der Rolle Polens als Bastion des Christentums oder auch von Polen als Christus der Nationen, dem Gott aufgetragen hat, diese durch seine Leiden zu erlösen. Überspannte Visionen, wie sie durch die polnische romantische Literatur des frühen 19. Jahrhunderts geistern und bis heute in politische Diskussionen eingebracht werden.

Der schrille Ton einer exaltierten national-katholischen Martyrologie begleitet auch die neu aufgeflammte Diskussion über die Flugzeugkatastrophe, bei der am 10. April 2010 im russischen Smolensk ein großer Teil der polnischen Führung ums Leben kam, darunter auch Staatspräsident Lech Kaczyński, der Zwillingsbruder des heutigen PiS-Chefs. Die Auseinandersetzungen über die Ursachen des Unglücks spalten seit Jahren die polnische Gesellschaft. Die von Verteidigungsminister Antoni Macierewicz mit Schaum vor dem Mund vorgetragene Ansicht, das Flugzeug des polnischen Präsidenten könne nur durch einen terroristischen Akt (vermutlich vonseiten Russlands) zum Absturz gebracht worden sein, um Polen seiner Führung zu berauben, wird inzwischen fast schon zum Glaubensartikel erklärt, an dem nicht gerüttelt werden darf. Wer auch nur die Möglichkeit in Betracht zieht, die Katastrophe sei vielleicht auf menschliches Versagen zurückzuführen, wird des Verrats an Volk und Vaterland bezichtigt. Als Hauptschurken gelten der Erzfeind Russland und die vorige polnische Regierung, allen voran der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk. Für Tusk könne es nur eine Strafe geben, so forderte kürzlich die künstlerische Direktorin eines einflussreichen Fernsehsenders allen Ernstes, nämlich die Todesstrafe. Der Präsident des polnischen Senats, Stanislaw Karczewski, gibt sich milder und verlangt für den prominenten Europapolitiker nur "scharfen Kerker". Auch Kaczyński spricht in Hinblick auf die Katastrophe von Smolensk unversöhnlich von Schuld und Strafe.

Größen- und Verfolgungswahn

Schuld und Strafe. Diese Begriffe aus dem Alten Testament spielen auch in der Diskussion um die Abtreibung eine wichtige Rolle. Polen hatte schon bisher eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa, das einen Schwangerschaftsabbruch nur in wenigen Fällen zulässt. Die Führung der katholischen Kirche und eine abtreibungsfeindliche Bürgerinitiative haben nun einen Vorstoß unternommen, um eine weitere Verschärfung durchzusetzen, die einem absoluten Verbot gleichkäme. Das entspricht wohl auch den Intentionen Kaczyńskis und seiner engsten Anhänger, die nicht müde werden, stets ihre Nähe zu den konservativsten Kreisen der Kirche zu betonen. Andererseits weiß Kaczyński, dass es sich bei der Abtreibung um eine "leicht entflammbare Materie" handelt, wie die liberale Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" kürzlich formulierte. Die Polen sind zwar nach wie vor mehrheitlich katholisch – und zwar im Sinn eines oft reaktionären Katholizismus -, aber in privaten Angelegenheiten lassen sie sich von der Kirche nicht gern dreinreden. Der Vorstoß der Kirchenführung löste denn auch massenhafte Proteste aus, Frauen gingen zu Zehntausenden auf die Straße, um gegen die geplante Verschärfung des Gesetzes zu protestieren, in der sie einen Eingriff des Staates in die intimsten Bereiche sehen, aber auch das Bestreben, die Gesellschaft über die Sexualität und Fortpflanzung zu kontrollieren. "Pfoten weg von unseren Gebärmüttern!", lautete ein Slogan bei landesweiten Demonstrationen, bei denen Frauen Kleiderhaken aus Draht schwenkten – ein Symbol für die illegale Abtreibung in früheren Zeiten, die viele Frauen mit dem Leben bezahlten.

Kaczyński kommt der Streit um die Abtreibung momentan nicht gelegen, hat er doch in letzter Zeit gelernt, die Kraft und Ausdauer gesellschaftlicher Proteste nicht zu unterschätzen. Die Polen sind eine rebellische Nation. Bisher hat das Regime in Warschau, anders als Putin oder Erdogan, darauf verzichtet, offene Gewalt gegen Oppositionelle einzusetzen. Vor der Redaktion der liberalen "Gazeta Wyborcza" hat ein reaktionärer Priester exorzistische Rituale vollführt, aber das Regime hütet sich, Bereitschaftspolizei gegen kritische Journalisten aufmarschieren zu lassen, wie das in der Türkei und in Russland an der Tagesordnung ist. Das würden auch viele PiS-Wähler nicht goutieren.

Es ist noch in der Schwebe, ob die Kirchenfürsten mäßigend auf das Regime einwirken oder eher den stramm nationalistischen, europafeindlichen Kurs Kaczynskis unterstützen werden. So oder so steht Kaczyński tief in der Schuld der Kirche, die ihn stets aktiv unterstützt hat. Die katholische Kirche ist ein wichtiger Verbündeter der PiS-Regierung, betont er bei jeder Gelegenheit, wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass er damit die reaktionäre Richtung meint, wie sie Pater Tadeusz Rydzyk vertritt, Leiter des einflussreichen Medienunternehmens von Radio Maryja, das auch chauvinistischen und antisemitischen Äußerungen eine Plattform bietet. Rydzyk steht für den ultranationalistischen Kurs eines kämpferischen Katholizismus, der mehr oder weniger offen auf einen klerikalen Faschismus zusteuert.

Welche Blüten dieser Haudrauf-Katholizismus hervorbringen kann, bekam man unlängst in der ostpolnischen Stadt Bialystok vorgeführt. Dort versammelten sich ein paar Hundert Mitglieder der neofaschistischen Organisation ONR (Nationalradikales Lager), um den 82. Jahrestag der Gründung ihrer Bewegung zu feiern, die in der Zwischenkriegszeit einen offen faschistischen und antisemitischen Kurs verfolgte. Seit ein paar Jahren ist sie wieder öffentlich tätig. In der Kathedrale von Bialystok begingen die jungen Faschisten, in Uniform und mit Fahnen, einen Gedenkgottesdienst. In der Predigt erklärte ein Priester, ein bekannter Rechtsextremist, dass es "null Toleranz" für Gegner des ultranationalistischen Kurses des ONR geben könne, die er mit einem "bösartigen Krebsgeschwür" verglich. Gegen dieses brauche es eine kräftige "Chemotherapie", und eine solche könne nur ein "kompromissloser national-katholischer Radikalismus" sein. Anschließend marschierten die katholischen Glatzen durch die Stadt und brüllten Parolen wie "Es marschiert die neue Generation, sie bringt Polens Wiedergeburt", "Fort mit der Europäischen Union" oder "Großes katholisches Polen".

Eine Episode am Rande: Die Behörden der Polytechnik von Bialystok forderten ausländische Studenten auf, an diesem Wochenende nicht auf die Straße zu gehen, sondern in ihren Zimmern zu bleiben. Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, nicht um syrische Flüchtlinge oder Studenten aus Afrika, sondern mehrheitlich um Erasmus-Studenten aus anderen europäischen Ländern. Anhänger des ONR patrouillieren schon seit einiger Zeit in polnischen Städten, um Bürger vor vermeintlichen Übergriffen von Flüchtlingen zu schützen, von denen es in Polen kaum welche gibt.

Dass der Aufmarsch der christlichen Schläger ausgerechnet an jenem Wochenende stattfand, an dem der Papst nach Lesbos reiste, um seine Solidarität mit syrischen Flüchtlingen unter Beweis zu stellen, ist ein pikantes Detail, das das düstere Bild abrundet. Die Flüchtlinge, die der Papst mit nach Rom nahm, um ihnen dort ein sicheres Heim zu bieten, wären in Bialystok ihres Lebens nicht sicher gewesen. Sie wären möglicherweise wie Freiwild durch die Straßen gejagt worden, wie das Anhänger des ONR vor dem Krieg mit Juden gemacht hatten.

Das große katholische Polen. Ein Bollwerk gegen Flüchtlinge und andere Fremde. Die Flüchtlingskrise, die ganz Europa in Bann hält, ist ein wichtiges Argument, das von rechten Regierungen, nicht nur in Polen, genützt wird, um ihren autoritären Kurs zu legitimieren. Mit ihrem harten Kurs in der Flüchtlingsfrage und der Weigerung, europäische Solidarität zu beweisen, kann die Regierung in Warschau mit der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Auch im übrigen Europa kann man der neuen Hartherzigkeit, als deren Erfinder Viktor Orbán gelten kann, zunehmend etwas abgewinnen. Österreich ist dafür ein unrühmliches Beispiel. Während Viktor Orbán noch vor ein paar Jahren europaweit als politischer Außenseiter galt, genießt er heute wachsende Zustimmung. Auch im Westen. "So unrecht hat Orbán ja nicht", meinte etwa der österreichische Vizekanzler vor kurzem hinsichtlich der Bestrebungen Ungarns, Flüchtlinge mit allen erdenklichen Mitteln vom eigenen Land fernzuhalten. Ein Beispiel, dem Österreich nur zu willig folgt, wie die eben wiederaufgenommenen Kontrollen an der ungarisch-österreichischen Grenze und der frisch errichtete Grenzzaun zeigen. Orbán und Kaczyński als Vordenker eines neuen Europa. Eine beängstigende Vorstellung.

Frustrierte Menschen

Umso wichtiger erscheint es, genau zu beobachten, wohin Polen treibt. Wenn man liest, was kritische polnische Intellektuelle schreiben, bekommt man es mit der Angst zu tun. Ist das Panikmache, um die Gesellschaft gegen Kaczyński und den autoritären Kurs zu mobilisieren? Oder sind das in der Realität wurzelnde Befürchtungen?

Inzwischen gibt es immer mehr seriöse Stimmen, die davor warnen, dass Polen auf einen neuen Faschismus zusteuert. Die Kulturanthropologin Joanna Tokarska-Bakir, eine brillante Analytikerin der geistigen Entwicklung Polens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa meint, dass nach ein paar Monaten PiS-Regierung nur mehr ein Element fehlt, um von einem Faschismus polnischer Prägung sprechen zu können – die offene Gewalt. Dafür gibt es bisher keine Anzeichen, aber das heißt nicht, dass eine solche Entwicklung undenkbar wäre.

Wie in anderen europäischen Ländern – nicht nur im Osten – gibt es auch in Polen eine wachsende Schicht frustrierter Menschen, die jederzeit bereit scheinen, auf die Demütigung durch die Gesellschaft, von der sie sich an den Rand gedrängt fühlen, mit nackter Gewalt zu antworten. Sie wären gewiss auch bereit, ein gewaltsames Durchgreifen des Staates zu befürworten. Es braucht nur einen starken Mann, dem sie in blindem Gehorsam folgen können. Ob Kaczyński gewillt ist, in diese Rolle zu schlüpfen, muss sich erst weisen. Jedenfalls mehren sich die Signale, die in diese Richtung deuten. Ein klerikaler Faschismus am Horizont? Eine beängstigende Vorstellung, aber nicht mehr ganz ausgeschlossen. (Martin Pollack, 1.5.2016)