Anna Mwangi, "Die Kinder des Genossen Rákosi", € 14,00 / 190 Seiten. Edition Exil, Wien 2015

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Es gibt einen Gedanken in diesem Buch, der an mehreren Stellen geäußert wird: dass es besser ist, wenn man tot ist. Dann ist man zufriedener.

Etelka Varga, die Protagonistin, hört ihn in Varianten immer wieder in Ungarn. 1949 unter dem stalinistischen Regime von Mátyás Rákosi geboren, wächst sie unter besonders ungünstigen Umständen auf. Ihre Eltern sind unabhängig linke, bürgerliche Intellektuelle. Dementsprechend bald gerät der Vater nach fadenscheinigen Anschuldigungen in Gefangenschaft, die Mutter muss sich mit ihren drei Kindern in der Provinz durchschlagen.

Die Entstalinisierung und die darauffolgenden Vorschriften für den korrekten politischen Kurs bringen nur zeitweilig Entspannung in das Leben der Familie Varga. Der Vater wird zwar rehabilitiert, doch Etelka und ihre Geschwister, auch ihre Eltern, ihre ganze Generation sind weiterhin Kinder des Genossen Rákosi, wie Anna Mwangi ihren stark autobiografisch gefärbten Roman genannt hat. Schonungslos rückblickend beobachtet die Autorin durch die Augen Etelkas die Fortsetzung von Opportunismus und Spitzeltum, von Angst, Neid und Lügen, die sich auch tief in Freundschaften und Verwandtschaften fressen.

Eine vermeintliche Zäsur ist für Etelka 1963 die Ausreise in den ersehnten Westen, nach Wien, wo der Vater die Leitung des ungarischen Tourismusbüros übernimmt. Aber die großen wie die privaten Probleme hören hier nicht auf, im Gegenteil. Denn zum einen reichen die Arme der ungarischen Politik und des Geheimdienstes spielend bis in Wiener Zinshäuser – der Vater wird wieder in seiner Heimat eingesperrt und kommt erst nach einem langwierigen Kampf seiner Frau mit den Behörden frei und als traumatisierter Mann nach Wien zurück.

Zum anderen gerät Etelka zunehmend in Konflikt mit ihren Eltern und mit Wienern. Wie schon in Budapest hat sie sich in der neuen Stadt mit einem Afrikaner angefreundet – sie spürt die Verwandtschaft im Außenseitertum und im Erleiden ungerechter Behandlung. Angesichts eines "Negers" aber werden nicht nur Vermieter, Verkäufer, Polizisten und sonstige Mitmenschen zu Hyänen. Auch die Mutter zeigt unerbittlich die Grenzen ihrer Toleranz. Wie Etelka dennoch unbeirrt und gegen größte Widerstände ihren Weg weitergeht, das beschreibt Mwangi im letzten Teil präzise wie eine Dokumentaristin.

In klassischer Romantradition, doch in moderner, schmuckloser Schreibweise verschränkt Mwangi ein Einzelschicksal mit den Zeitläufen. Keines geht im anderen restlos auf. Gemeinsam ermöglichen sie ein Verständnis dafür, warum ein Schicksal sich so entwickelt hat und nicht anders.

In ihrer ersten Zeit in Wien sieht Etelka ein Buch im Schaufenster: "Ich bin Rákosis Sohn." Der Autor ist jemand, den es offiziell nie gab, so wie der Diktator selbst inzwischen eine Unperson ist. Aber, wer weiß, vielleicht eines Tages wieder zum verehrten Vorbild wird.

Dem Buch ist zu wünschen, dass es auch auf Ungarisch erscheint und unter den Landsleuten der Autorin Verbreitung findet: als Spiegel, in dem sie ihre Geschichte und ihre Gegenwart schärfer sehen können. (Michael Freund, Album, 6.5.2016)